Anhörung von Kindern in Zivilverfahren

Seit 1997 gilt auch in der Schweiz das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (SR 0.107). Gemäss der UN-Kinderrechtskonvention gilt Folgendes:

Art. 12 KRK
1 Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.
2 Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden

Die Schweiz hat diese Bestimmung in Bezug auf eherechtliche Verfahren in der Zivilprozessordnung konkretisiert:

Art. 298 ZPO
Anhörung des Kindes
1 Das Kind wird durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson in geeigneter Weise persönlich angehört, sofern sein Alter oder andere wichtige Gründe nicht dagegen sprechen.
2 Im Protokoll der Anhörung werden nur die für den Entscheid wesentlichen Ergebnisse festgehalten. Die Eltern und die Beiständin oder der Beistand werden über diese Ergebnisse informiert.
3 Das urteilsfähige Kind kann die Verweigerung der Anhörung mit Beschwerde anfechten.

Die Zürcher Gerichte erläuterten den Sinn von Kinderanhörungen auf ihrer Website folgendermassen:

Durch die Anhörung der Kinder und Jugendlichen soll dem Richter bzw. der Richterin ermöglicht werden, sich unmittelbar über die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes ein eigenes Bild zu machen. Die Anhörung hat einen doppelten Zweck: Sie ist Ausdruck des Respekts vor Kindern und Jugendlichen, die sich zur Scheidung schon eine eigene Meinung bilden können. Und sie hilft dem Gericht bei der Beurteilung der Situation der Kinder innerhalb der Familie.

In einem Urteil vom 1. Juni 2005, gestützt auf die inhaltlich identische Vorgängerbestimmung von Art. 298 ZPO, hat das Bundesgericht entschieden, dass Kinder in der Regel ab dem vollendeten 6. Altersjahr anzuhören sind, ausser wichtige Gründe sprechen dagegen (BGE 131 III 553):

Im Sinn einer Richtlinie ist die Kinderanhörung grundsätzlich ab dem vollendeten sechsten Altersjahr möglich (E. 1).

1. Die Klägerin beanstandet die unterbliebene Anhörung der Kinder und macht eine Verletzung von Art. 144 Abs. 2 ZGB sowie von Art. 12 der UNO-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989 (KRK; SR 0.107) geltend.

1.1 Art. 144 Abs. 2 ZGB bestimmt, dass bei Anordnungen über Kinder diese in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich anzuhören sind, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen. Diese Norm findet auf alle gerichtlichen Verfahren Anwendung, in denen Kinderbelange zu regeln sind. Sie gilt demnach nicht nur im Scheidungs-, sondern auch im Eheschutzverfahren sowie namentlich für die vorsorglichen Massnahmen im Sinn von Art. 137 ZGB (siehe BGE 126 III 497) und im Abänderungsverfahren nach Art. 134 ZGB.

Die Anhörung ist Ausfluss der Persönlichkeit des Kindes und somit ein höchstpersönliches Recht (dazu insb. SCHÜTT, Die Anhörung des Kindes im Scheidungsverfahren, Diss. Zürich 2002, S. 50 ff.). Sobald das Kind urteilsfähig ist, nimmt es seinen Anspruch selbst wahr; ab diesem Stadium erhält der Gehörsanspruch die Komponente eines persönlichen Mitwirkungsrechts, welches das Kind insbesondere berechtigt, (auch im Verfahren seiner Eltern) die Anhörung zu verlangen, soweit es betroffen ist (SCHÜTT, a.a.O., S. 51 und 81 ff.; LEVANTE, Die Wahrung der Kindesinteressen im Scheidungsverfahren – die Vertretung des Kindes im Besonderen, Diss. St. Gallen 2000, S. 42; RUMO-JUNGO, Die Anhörung des Kindes [im Folgenden: Anhörung], in: AJP 1999 S. 1579 und 1589; BODENMANN/RUMO-JUNGO, Die Anhörung von Kindern, in: FamPra.ch 2003 S. 24). Daneben dient die Anhörung unabhängig vom Alter des Kindes der (von Amtes wegen vorzunehmenden, vgl. Art. 145 ZGB) Ermittlung des Sachverhalts (REUSSER, Die Stellung des Kindes im neuen Scheidungsrecht, in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht, Bern 1999, N. 4.75; FREIBURGHAUS, Auswirkungen der Scheidungsrechtsrevision auf die Kinderbelange und die vormundschaftlichen Organe [im Folgenden: Auswirkungen], in: ZVW 1999 S. 141; SCHWEIGHAUSER, in: Praxiskommentar Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 7 zu Art. 144 ZGB; SCHÜTT, a.a.O., S. 52 f.), weshalb die Eltern die Anhörung des Kindes aufgrund ihrer Parteistellung als Beweismittel anrufen können (SCHÜTT, a.a.O., S. 51 f. und 99; vgl. auch RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1579 und 1589; Bodenmann/ RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 24). In dieser Hinsicht geht Art. 144 ZGB über Art. 12 KRK hinaus, der ein Meinungsäusserungsrecht in allen das Kind belangenden Verfahren gewährt, soweit dieses fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, was nach der Lehre mit der Urteilsfähigkeit im Sinn von Art. 16 ZGB gleichzusetzen ist (BRÄM, Die Anhörung des Kindes im neuen Scheidungsrecht, in: AJP 1999 S. 1570; vgl. auch BIRCHLER, Die Anhörung des Kindes, in: ZVW 2000 S. 239; SCHÜTT, a.a.O., S. 29 ff. und 68; vgl. schliesslich BGE 120 Ia 369 E. 1 S. 371).

Der im Rahmen des revidierten Scheidungsrechts am 1. Januar 2000 in Kraft getretene Art. 144 Abs. 2 ZGB stellt im Sinn der vorstehenden Ausführungen klar, dass Kinder grundsätzlich anzuhören sind, soweit nicht einer der beiden Ausnahmetatbestände – Alter oder andere wichtige Gründe – gegeben ist (vgl. namentlich: LEVANTE, a.a.O., S. 43; RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1581). Insofern ist der vom Obergericht für seinen ablehnenden Entscheid angerufene BGE 122 III 401 obsolet; dieser Entscheid erging zum alten Scheidungsrecht, wo die Kinderanhörung gesetzlich nicht vorgesehen war, aber Zuteilungswünsche älterer Kinder aufgrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in die Entscheidfindung miteinzubeziehen waren.

1.2 Das Gesetz selbst legt nicht fest, bis zu welchem Alter von einer Anhörung abzusehen sei; auch der Botschaft zum neuen Scheidungsrecht lässt sich keine konkrete Alterslimite entnehmen.

1.2.1 Auch das Bundesgericht hat bislang kein Schwellenalter für die Anhörung von Kindern festgelegt. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat es lediglich festgehalten, die Anhörung eines normal entwickelten 9½-jährigen Kindes sei nicht willkürlich (Urteil 5P.204/2002 vom 6. August 2002, E. 3.4), während es den Verzicht auf die Anhörung von zehn- und zwölfjährigen Kindern entgegen dem ausdrücklichen Begehren und ohne Angabe von Gründen als willkürlich erachtet hat (Urteil 5P.112/2001 vom 27. August 2001, E. 4). Hingegen hat das Bundesgericht entschieden, es sei nicht willkürlich, wenn das Gericht davon absehe, ein sieben- bzw. fünfjähriges Kind, das bereits im Rahmen einer psychologischen Begutachtung befragt worden und im Übrigen durch die chronische Auseinandersetzung zwischen den Eltern stark belastet war, erneut anzuhören (Urteil 5P.322/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 3.2). Sodann hat es den Verzicht auf die Anhörung eines knapp sechsjährigen Kindes geschützt, weil dieses bis anhin nie Kontakt zum Vater gehabt hatte und sich deshalb keine eigene Meinung bilden konnte (BGE 124 III 90); bei diesem Fall gilt es im Übrigen zu beachten, dass einzig eine Verletzung von Art. 12 KRK zu prüfen war, der im Gegensatz zu Art. 144 Abs. 2 ZGB die Urteilsfähigkeit des Kindes voraussetzt (vgl. Ziff. 1.1).

In der gelebten kantonalen Rechtspraxis scheint ein grosser Teil der Gerichte bis zum elften bzw. zwölften Altersjahr von einer Anhörung abzusehen, wenn die Zuteilung der Kinder unstrittig ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass durch die gewählte Lösung das Kindeswohl gefährdet wird (vgl. BIRCHLER, a.a.O., S. 240; SCHÜTT, a.a.O., S. 71; STAUBLI, Anhörung und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Verfahren, insbesondere im Scheidungsverfahren, in: Kinderrechte – Kinderschutz, Basel 2002, S. 98; SUTER, L’audition de l’enfant en procédure matrimoniale, in: Revue jurassienne de jurisprudence [RJJ] 2002 S. 33).

In der Literatur gehen die Meinungen zur Frage, bis zu welchem Alter in jedem Fall von einer Anhörung abzusehen sei, auseinander. Auf die deutsche Praxis verweisend, nach der Kinder teilweise ab dem zweiten und jedenfalls ab dem dritten Lebensjahr angehört werden, plädieren einige Autoren für eine Anhörung ab diesem Alter (BREITSCHMID, Kind und Scheidung der Elternehe, in: Das neue Scheidungsrecht, Zürich 1999, S. 123 f.; vgl. auch JACCOTTET Tissot, L’audition de l’enfant, in: FamPra.ch 2000 S. 83) oder jedenfalls ab einem solchen von fünf bis sechs Jahren (BODENMANN/ RUMO-JUNGO, a.a.O., S. 26; RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1582; derselbe, Das Kind und die Scheidung seiner Eltern: ausgewählte Fragen, in: Kindeswohl, Zürich 2003, S. 156; ZIMMERMANN, Le témoignage d’enfants dans le contexte juridique: la question de la suggestibilité, in: Revue valaisanne de jurisprudence (RVJ) 2002 S. 126; vgl. auch SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, N. 35 zu Art. 144 ZGB). Der wohl überwiegende Teil der Lehre plädiert für eine Anhörung nicht vor sechs bzw. sieben Jahren (FREIBURGHAUS, Auswirkungen, S. 142; derselbe, Der Einfluss des Übereinkommens auf die schweizerische Rechtsordnung, in: Die Rechte des Kindes, 2001, S. 195; HAUSHEER, Die wesentlichen Neuerungen des neuen Scheidungsrechts, in: ZBJV 135/1997 S. 29; auf Letzteren verweisend: REUSSER, a.a.O., N. 4.79; LEVANTE, a.a.O., S. 43 f.).

1.2.2 Das Gesetz spricht von einer „Anhörung“, was semantisch eine verbale Äusserung des Kindes voraussetzt; die blosse „Anschauung“ oder Beobachtung des Kindes wird diesem Erfordernis nicht gerecht. Folglich setzt die Anhörung ein entsprechendes Alter des Kindes voraus und insofern ist sie von der kinderpsychiatrischen Begutachtung abzugrenzen, bei der die Beobachtung des Kindes eine von mehreren Erkenntnisquellen darstellen kann und für deren Anordnung kein bestimmtes Mindestalter vorausgesetzt ist.

Auf der anderen Seite ist das Schwellenalter für die Anhörung aber auch zu unterscheiden von der kinderpsychologischen Erkenntnis, dass formallogische Denkoperationen erst ab ungefähr elf bis dreizehn Jahren möglich sind und auch die sprachliche Differenzierungs- und Abstraktionsfähigkeit erst ab ungefähr diesem Alter entwickelt ist (vgl. FELDER/NUFER, Die Anhörung des Kindes aus kinderpsychologischer Sicht [im Folgenden: Anhörung], in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht, Bern 1999, N. 4.131; dieselben, Richtlinien für die Anhörung des Kindes aus kinderpsychologischer/kinderpsychiatrischer Sicht gemäss Art. 12 der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes [im Folgenden: Richtlinien], in: SJZ 95/1999 S. 318; NUFER, Die Kommunikationssituation bei der Anhörung von Kindern, in: SJZ 95/1999 S. 317, sowie in: ZVW 1999 S. 209). Die Anhörung setzt nicht voraus, dass das Kind im Sinn von Art. 16 ZGB urteilsfähig ist. Bei kleineren Kindern ist auch nicht nach konkreten Zuteilungswünschen zu fragen, können sich diese doch hierüber noch gar nicht losgelöst von zufälligen gegenwärtigen Einflussfaktoren äussern und in diesem Sinn eine stabile Absichtserklärung abgeben (vgl. ARNTZEN, Elterliche Sorge und Umgang mit Kindern, München 1994, S. 12 und 65; FELDER/NUFER, Richtlinien, S. 318; dieselben, Anhörung, N. 4.131). Die Aussagen jüngerer Kinder haben deshalb für die Zuteilungsfrage nur einen beschränkten Beweiswert (HAUSHEER, a.a.O., S. 29; REUSSER, a.a.O., N. 4.79). Bei ihnen geht es in erster Linie darum, dass sich das urteilende Gericht ein persönliches Bild machen kann und über ein zusätzliches Element bei der Sachverhaltsfeststellung und Entscheidfindung verfügt (vgl. BRÄM, a.a.O., S. 1569; SchweigHAUSER, a.a.O., N. 7 zu Art. 144 ZGB; FELDER/ NUFER, Anhörung, N. 4.128).

1.2.3 Aus den genannten Gründen geht das Bundesgericht im Sinn einer Richtlinie davon aus, dass die Kinderanhörung grundsätzlich ab dem vollendeten sechsten Altersjahr möglich ist. Indes ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich je nach den konkreten Umständen auch die Anhörung eines etwas jüngeren Kindes aufdrängen könnte, etwa wenn von mehreren Geschwistern das jüngste kurz vor dem genannten Schwellenalter steht.

1.2.4 Vorliegend hatte die Klägerin die Einvernahme der sieben- und neunjährigen Mädchen beantragt. Weil die Anhörung als Pflichtrecht ausgestaltet ist (vgl. RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1579), wäre das Obergericht folglich – unter Vorbehalt anderer wichtiger Gründe (dazu Ziff. 1.3) – in Anwendung von Art. 144 Abs. 2 ZGB zur Anhörung der beiden Kinder verpflichtet gewesen. Mit seiner Begründung, die Kinder seien zu einer Stellungnahme noch gar nicht in der Lage und ihren Aussagen könnte ohnehin kein bedeutendes Gewicht beigemessen werden, verkennt das Obergericht die grundsätzliche Bedeutung und den persönlichkeitsrechtlichen Aspekt der Kinderanhörung. Nichts anderes ergibt sich aus dem vom Obergericht aufgeführten BGE 127 III 295, wurde doch in jenem Fall von der (erneuten) Einvernahme eines neunjährigen Kindes, das seinen Vater kaum je gesehen hatte, im Wesentlichen deshalb abgesehen, weil es bereits im Rahmen eines umfassenden Gutachtens durch einen Kinderpsychiater befragt worden war.

1.3 Nebst dem Kindesalter kann auch aus anderen wichtigen Gründen, die das Gesetz wiederum nicht näher spezifiziert, von der Anhörung abgesehen werden.

1.3.1 Die Botschaft nennt beispielhaft die Ablehnung der Anhörung durch das Kind als wichtigen Grund (BBl 1996 I 144), wobei sicherzustellen wäre, dass das Kind dabei nicht durch einen Elternteil beeinflusst ist. Die Literatur nennt als weitere wichtige Gründe den begründeten Verdacht auf Repressalien gegenüber dem Kind, dessen dauernder Aufenthalt im Ausland, die Beeinträchtigung von dessen Gesundheit durch die Anhörung sowie die besondere Dringlichkeit der Anordnungen (vgl. namentlich: REUSSER, a.a.O., N. 4.85; ZIMMERMANN, a.a.O., S. 126; BALTZER-BADER, Die Anhörung des Kindes – praktisches Vorgehen, in: AJP 1999 S. 1576). Schliesslich würde es keinen Sinn machen, ein Kind anzuhören, das geistig behindert oder in seiner Entwicklung in einer Weise retardiert ist, dass seinen Ausführungen kein Aussagewert beigemessen werden könnte. Hingegen würde es nicht angehen, auf die Anhörung mit dem (nicht weiter belegten) Vorwand zu verzichten, man wolle dem Kind die Belastung ersparen (BRÄM, a.a.O., S. 1571; RUMO-JUNGO, Anhörung, S. 1582).

1.3.2 Das Obergericht hat bei seinem ablehnenden Entscheid unter anderem auf die Briefchen der Kinder – nach dem einen möchten sie gerne bei der Mutter wohnen, nach dem andern freuen sie sich, beim Vater zu leben – und die Zeugenaussage der Leiterin des Kinderhorts verwiesen, wonach der betreffende Entscheid für die Mädchen ein Problem sei, weil sie keinem der Elternteile wehtun möchten. Das Gericht hat daraus gefolgert, dass die Kinder in einem Loyalitätskonflikt stünden und die Anhörung für sie eine Belastung darstellen würde.

1.3.3 Im Normalfall sind Kinder beiden Elternteilen gleichermassen zugeneigt und sie wünschen sich in Trennungssituationen deren Wiedervereinigung (ARNTZEN, a.a.O., S. 1 f.). Deshalb steht fast jedes Scheidungskind in einem latenten oder offenen Loyalitätskonflikt, der sich mehr oder weniger belastend auswirkt. Insofern könnte die Kinderanhörung mit dem blossen Verweis auf die – letztlich bei jedem familienrechtlichen Verfahren auf die eine oder andere Weise bestehende – Belastungssituation systematisch unterlaufen werden. Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang schliesslich die Tatsache, dass in aller Regel nicht die (einmalige) Anhörung, sondern die (gegebenenfalls chronisch konfliktbeladene) Familiensituation die eigentliche Belastung für das Kind darstellt. Deshalb darf von einer beantragten Anhörung nur dann abgesehen werden, wenn – nebst anderen möglichen Gründen (dazu Ziff. 1.3.1) – eine eigentliche Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Gesundheit des Kindes zu befürchten ist. Aus dem für das Bundesgericht verbindlich festgestellten Sachverhalt (Art. 63 Abs. 2 OG) gehen keine Anzeichen für eine Belastung hervor, die über das hinausginge, was jedem Verfahren, in welchem Kinderbelange zu regeln sind, inhärent ist.

1.4 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass das Obergericht mit der Verweigerung der von der Klägerin beantragten Kindesanhörung Art. 144 Abs. 2 ZGB verletzt hat.

Dass Kinder in der Regel erst ab dem 6. Altersjahr angehört werden sollen, heisst nicht, dass bei jüngeren Kindern grundsätzlich auf eine Anhörung verzichtet werden kann. Kinderanhörungen sind regelmässig etwa ab dem 3. Altersjahr möglich. Bei noch jüngeren Kindern machen Anhörungen jedoch kaum einen Sinn. Bei strittigen Verhältnissen ist eine Kinderanhörung auch bei Kindern zwischen dem 3. und 6. Altersjahr meist angezeigt. Entscheidend sind aber immer die konkreten Umstände im Einzelfall. Allenfalls ist die Anhörung durch eine Fachperson vorzunehmen.

Die Zürcher Gerichte äusserten sich diesbezüglich wie folgt:

Ob im konkreten Fall eine Anhörung stattfindet, entscheidet das Gericht aufgrund der Umstände und des Gesprächs mit den Eltern. Nach Meinung des Bundesgerichts ist eine Anhörung ab dem sechsten Altersjahr eines Kindes grundsätzlich möglich (BGE 131 III 553). Am Bezirksgericht Zürich erhalten Kinder und Jugendliche über elf Jahren in aller Regel eine briefliche Einladung zu einem Gespräch. Jüngere Kinder erfassen die Bedeutung des elterlichen Konfliktes meist noch nicht voll. Entsprechend ist für sie die Belastung durch eine Anhörung durch eine fremde Person grösser, besonders solange sich die Eltern über die Kinderbelange streiten. Umgekehrt ist es gerade in umstrittenen Fällen für eine angemessene Regelung der Beziehungen zu den Eltern wichtig, auch die Bedürfnisse kleinerer Kinder abzuklären. Da für die Bewertung ihrer Äusserungen meist Fachwissen nötig ist, zieht das Gericht hier in umstrittenen Fällen oft Experten bei (siehe BGE 127 III 295). Selbstverständlich berücksichtigt es beim Entscheid auch, ob das betroffene Kind die Anhörung wünscht oder nicht.

Mein Eindruck ist, dass trotz den klaren Vorgaben Kinderanhörungen oft nicht durchgeführt werden, selbst wenn die Kinder eigentlich genügend alt sind, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Namentlich in Eheschutzverfahren sind Kinderanhörungen eher die Ausnahme. In Scheidungen sieht es dagegen besser aus. Allerdings wird auch dort gerne auf eine Kinderanhörung verzichtet, wenn die Kinderbelange zwischen den Parteien unstrittig sind und diese Lösung offensichtlich nicht gegen den Kinderwillen ist.

Ausserdem kann eine Anhörung unterbleiben, wenn wichtige Gründe dagegen sprechen, namentlich, wenn ein Kind die Anhörung ablehnt, wenn ein Kind durch die Anhörung einer unzumutbaren psychischen Belastung ausgesetzt würde oder wenn das Kind sich bereits im Rahmen einer Begutachtung (Anhörung durch Fachperson) geäussert hat.

Das Bundesgericht äusserte sich in BGE 133 III 553 zur Befragung durch Drittpersonen wie folgt:

Werden Kinder durch eine beauftragte Drittperson angehört, muss diese unabhängig und qualifiziert sein. Wo dies für das Kind eine unzumutbare Belastung bedeuten würde, ist von einer erneuten Anhörung durch den Richter abzusehen (E. 4).

3. Sind Anordnungen über Kinder zu treffen, werden diese durch das Gericht oder eine beauftragte Drittperson persönlich angehört, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen (Art. 144 Abs. 2 ZGB). Was den Ausschlussgrund des (mangelnden) Alters des Kindes anbelangt, hat das Bundesgericht die Schwelle im Sinn einer Richtlinie auf den Zeitpunkt des vollendeten sechsten Altersjahres festgelegt (BGE 131 III 553 E. 1.2.3).

Beim erstinstanzlichen Urteil war B. sieben und beim obergerichtlichen Urteil sogar acht Jahre alt. Dass somit der Ausschlussgrund des Kindesalters nicht gegeben war und dem in zweiter Instanz ausdrücklich gestellten Antrag auf Anhörung grundsätzlich hätte stattgegeben werden müssen (BGE 131 III 553 E. 1.2.4), hat implizit auch das Obergericht anerkannt. Es hat jedoch befunden, auf eine eigene Anhörung verzichten zu können, wenn eine solche bereits im Rahmen einer Begutachtung stattgefunden habe und keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien.

4. Die Anhörung des Kindes durch den Richter selbst und diejenige durch eine beauftragte Drittperson stehen nach dem Wortlaut von Art. 144 Abs. 2 ZGB auf der gleichen Stufe. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung soll zwar der Richter die Anhörung in der Regel selbst vornehmen und sie jedenfalls nicht systematisch an Dritte delegieren; ebenso wenig sollen aber die vom Gesetz gewährten Spielräume unnötig beschränkt werden: Während der Anhörung durch den urteilenden Richter der Vorzug der Unmittelbarkeit innewohnt, wird dieser oft weniger an spezifischer Ausbildung und Erfahrung aufweisen als eine Fachperson (BGE 127 III 295 E. 2a und 2b). So oder anders ist eine Anhörung um der Anhörung willen zu vermeiden. Insbesondere ist von wiederholten Anhörungen abzusehen, wo dies für das Kind eine unzumutbare Belastung bedeuten würde, was namentlich bei akuten Loyalitätskonflikten der Fall sein kann, und überdies keine neuen Erkenntnisse zu erwarten wären oder der erhoffte Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis zu der durch die erneute Befragung verursachten Belastung stünde (Urteile 5P.322/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 3.2, publ. in: FamPra.ch 2004 S. 711; 5C.247/2004 vom 10. Februar 2005, E. 6.3.2). Diesfalls hat der Richter bei seinem Entscheid auf die Ergebnisse der Anhörung durch die Drittperson abzustellen. Dabei kann es sich auch um ein Gutachten handeln, das in einem anderen Verfahren in Auftrag gegeben worden ist. Ausschlaggebend muss sein, dass es sich beim Dritten um eine unabhängige und qualifizierte Fachperson handelt, dass das Kind zu den entscheidrelevanten Punkten befragt worden ist und dass die Anhörung bzw. deren Ergebnis aktuell ist.

Die Anhörung von Kindern bedeutet jedoch nicht, dass den Kindern ein Wahlrecht in Bezug auf die Obhut oder den persönlichen Verkehr zukommt. Das grundsätzliche Problem ist, dass die Aussagen von Kindern gewürdigt werden müssen. Es muss klar sein, dass sich das Kind seine Meinung unbeeinflusst gebildet hat. Das ist insbesondere bei sehr jungen Kindern ein Problem. Nicht selten ist das Kind – bewusst oder unbewusst – durch den betreuenden Elternteil beeinflusst, zum Beispiel bei einem symbiotischen Kind-Eltern-Verhältnis. Es stellt sich somit die Frage, ob ein Loyalitätskonflikt oder ein elterliches Entfremdungssyndrom vorliegt. Es kann somit nicht immer auf die Aussage eines Kindes abgestellt werden. Die Aussage des Kindes ist immer kritisch zu würdigen.

Beispiel: Der Vater ist Alkoholiker und übt körperliche und psychische Gewalt gegen die Ehefrau aus und hat seinen achtjährigen Sohn gegen seine Frau aufgehetzt, weshalb er nach der Trennung mit seinem Vater zusammenleben will. Da der Vater offensichtlich nicht in der Lage ist, für seinen Sohn angemessen zu sorgen und zudem den Kontakt zur Mutter hintertreibt, kann die Meinung des Sohnes nicht berücksichtigt werden, da die Betreuung durch den Vater eine Kindeswohlgefährdung darstellen würde.

Die Anhörung des Kindes wird nur summarisch (zusammenfassend, nicht wörtlich) protokolliert. Das Kind wird dabei regelmässig gefragt, ob das, was es gesagt habe, protokolliert werden solle. Wenn dies das Kind verneint, wird mehr oder weniger nur protokolliert, dass das Kind befragt worden sei und allenfalls, dass es eine Präferenz geäussert habe.

Das Bundesgericht äusserte sich bereits im Jahr 1996 zur Protokollierung von Anhörungen von Kindern (BGE 122 I 53):

Es genügt der Verfassung, wenn die Eltern zum Ergebnis des Gesprächs, das der Richter im Verfahren nach Art. 145 ZGB von sich aus und unter vier Augen mit ihrem Kind geführt hat, vor dem Entscheid über die Kinderzuteilung Stellung nehmen können (E. 4a). Die Einzelheiten des Gesprächsinhalts müssen den Eltern nicht zugänglich gemacht werden (E. 4c). Daher ist auch ein Protokoll überflüssig (E. 5).

4. Die Beschwerdeführerin begründet die Verletzung der Verfassung damit, das Zivilgericht hätte ihr das rechtliche Gehör nur gewähren können, wenn es den Instruktionsrichter verpflichtet hätte, den Inhalt des Gesprächs zwischen ihm und Sohn E. festzuhalten und den Parteien zugänglich zu machen. Die Unterlassung der Erstellung eines ausführlichen Protokolls erwecke den Eindruck von Geheimjustiz und habe ihren Anspruch auf Stellungnahme und Beweisführung illusorisch gemacht.

a) Das durch Art. 4 BV gewährleistete rechtliche Gehör dient der Sachaufklärung und garantiert dem Betroffenen ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht im Verfahren. Er soll sich vor Erlass des Entscheids zur Sache äussern, erhebliche Beweise beibringen, Einsicht in die Akten nehmen und an der Erhebung von Beweisen mitwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern können, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 121 III 331 E. 3b, BGE 119 Ia 260 E. 6a, BGE 117 Ia 262 E. 4b). Aus triftigen Gründen kann das Recht auf umfassende Information und Mitwirkung ohne Verletzung der Verfassung eingeschränkt werden (BGE 113 Ia 81 E. 3a S. 83, BGE 112 Ia 5 E. 2c). Insbesondere im Bereich des Kindesschutzes, wo die uneingeschränkte Offizialmaxime gilt, kann die zuständige Behörde nach eigenem Ermessen auf unübliche Art Beweise erheben und von sich aus Berichte einholen, auch wenn das im kantonalen Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorgesehen ist; massgebend ist in erster Linie das Wohl des Kindes (vgl. Art. 307 Abs. 1 ZGB). Daraus kann sich, wie in allen persönlichkeitsbezogenen Angelegenheiten, eine Einschränkung des Rechts auf Teilnahme an Beweiserhebungen ergeben, die freilich immer aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein muss (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 21. November 1994 i.S. St., E. 3d). Als verfassungskonform erachtet das Bundesgericht gerade auch die formlose Anhörung des Kindes in Abwesenheit der Eltern und ihrer Vertreter im Zusammenhang mit der Regelung von Kinderzuteilung und Besuchsrecht (nicht veröffentlichte Urteile vom 27. Juli 1995 i.S. M., E. 3, und vom 10. Juni 1991 i.S. St., E. 5). In solchen Fällen genügt es, wenn die Parteien nachträglich Gelegenheit bekommen, sich zum Beweisergebnis zu äussern (BGE 119 Ia 260 E. 6d). Inwieweit sie von der Beweisaufnahme ausgeschlossen werden, entscheidet der Richter in Würdigung der auf dem Spiel stehenden Interessen, hier insbesondere des Kindeswohles, nach Ermessen (BGE 119 Ia 260 E. 6c; CYRIL HEGNAUER, Die Wahrung der Interessen des Kindes im Scheidungsprozess, AJP/PJA 1994, S. 890; OSCAR VOGEL, Freibeweis in der Kinderzuteilung, in: FS C. HEGNAUER, Bern 1986, S. 614 f., 617 f. und 626 f.; INGEBORG SCHWENZER, Die UN-Kinderrechtskonvention und das schweizerische Kindesrecht, in AJP/PJA 1994, S. 823 f.; vgl. auch Botschaft über die Änderung des schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 15. November 1995, BBl 1996 I, S. 144 zu Art. 144 des Entwurfes).
b) (…)
c) Streitig ist weiter, ob es Art. 4 BV verletzt, die bloss summarische Eröffnung des Gesprächsinhaltes an die Parteien durch die Erwartung des Sohnes E. und das objektiv beurteilte Kindeswohl zu rechtfertigen. Nur darauf kann sich der sehr knapp begründete Vorwurf (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) der Beschwerdeführerin beziehen, das Gespräch hätte aktenkundig gemacht werden müssen. Sie beruft sich dafür auf PATRICK STACH, der den Entscheid des Bundesgerichts vom 10. Juni 1991 i.S. St. kommentiert und verlangt, dass solche Gespräche auf Tonband aufgezeichnet werden (AJP/PJA 1992 S. 130; vgl. VOGEL, a.a.O., S. 628). Dabei übersieht sie jedoch, dass sich der Sachverhalt in jenem Entscheid ganz wesentlich vom hier zu beurteilenden Fall unterscheidet. Während dort bei zwei Augenscheinen jeweils nur eine Partei anwesend war (a.a.O., E. 3a), hat hier kein Elternteil am Gespräch zwischen Sohn E. und dem Instruktionsrichter teilgenommen; das Gespräch hat auch nicht bei einer Partei zu Hause stattgefunden. Es leuchtet ohne weiteres ein, dass eine Beweisaufnahme, an der nur die eine Partei anwesend sein konnte, wegen des Gebotes der Waffengleichheit zu Gunsten der abwesenden Partei ausführlich dokumentiert werden muss. Wie das im einzelnen zu geschehen hat, braucht hier nicht erörtert zu werden. Wenn im vorliegenden Fall das Zivilgericht, wie es in der Vernehmlassung ausführt, den Wunsch des Sohnes E. nach Vertraulichkeit, die ihm die unverfälschte freie Darlegung seiner Motive und Wünsche sowie ferner die Aufrechterhaltung eines ungetrübten Verhältnisses zu beiden Elternteilen ermöglichen sollte, als schützenswert erachtete, handelte es im Interesse der Verwirklichung des materiellen Rechts

Die Zürcher Gerichte führten diesbezüglich Folgendes aus:

Die Anhörung des Kindes bleibt vertraulich. Den Eltern wird aber normalerweise eine Zusammenfassung des Gesprächs bekannt gegeben. Auf Wunsch des Kindes können Teile des Gesprächsinhalts ausgeklammert werden. Kinder und Eltern sollten nicht zögern, mit der Richterin oder dem Richter über ihre Wünsche und Vorbehalte zu sprechen. Erfahrungsgemäss sind die getroffenen Vereinbarungen und Entscheide für alle Betroffenen besser, wenn sie auch die Sicht der Kinder beachten, zum Beispiel was die Vereinbarkeit von Besuchen und Hobbies angeht. In erster Linie sollten daher Eltern und Kinder miteinander über die Veränderungen sprechen, die sich aus einer Trennung oder Scheidung ergeben.

In Kindesschutzverfahren bei der KESB gilt im Übrigen folgende Bestimmung:

Art. 314a ZGB
C. Kindesschutz / VI. Verfahren / 2. Anhörung des Kindes
1 Das Kind wird durch die Kindesschutzbehörde oder durch eine beauftragte Drittperson in geeigneter Weise persönlich angehört, soweit nicht sein Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen.
2 Im Protokoll der Anhörung werden nur die für den Entscheid wesentlichen Ergebnisse festgehalten. Die Eltern werden über diese Ergebnisse informiert.
3 Das urteilsfähige Kind kann die Verweigerung der Anhörung mit Beschwerde anfechten.