KESB: Anhörung durch die Gesamtbehörde?

Muss eine betroffene Person durch die KESB als Gesamtbehörde angehört werden oder kann die Anhörung durch ein einzelnes Behördenmitglied durchgeführt werden?

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist grundsätzliche eine Kollegialbehörde, wobei jedoch Ausnahmen möglich sind.

Art. 440 ZGB
A. Erwachsenenschutzbehörde
1 Die Erwachsenenschutzbehörde ist eine Fachbehörde. Sie wird von den Kantonen bestimmt.
2 Sie fällt ihre Entscheide mit mindestens drei Mitgliedern. Die Kantone können für bestimmte Geschäfte Ausnahmen vorsehen.
3 Sie hat auch die Aufgaben der Kindesschutzbehörde.

Das Verfahren vor der KESB in nur teilweise bundesrechtlich vereinheitlicht. Das Zivilgesetzbuch sieht insbesondere Folgendes vor:

Art. 447 ZGB
E. Anhörung
1 Die betroffene Person wird persönlich angehört, soweit dies nicht als unverhältnismässig erscheint.
2 Im Fall einer fürsorgerischen Unterbringung hört die Erwachsenenschutzbehörde die betroffene Person in der Regel als Kollegium an.

Das Zivilgesetzbuch regelt somit, dass bei der fürsorgerischen Unterbringung die betroffene Person in der Regel – aber nicht absolut zwingend – von der KESB als Kollegialbehörde (mit mindestens drei Mitgliedern) angehört werden muss. Daraus kann man ableiten, dass für sämtliche anderen Anhörungen bundesrechtlich nicht vorgeschrieben ist, dass diese ebenfalls durch die Gesamtbehörde durchgeführt werden müssen.

Wie solche Anhörungen schliesslich durchgeführt werden, ist eine Frage des kantonalen Verfahrensrechts. Im Kanton Zürich finden sich Verfahrensbestimmungen im Einführungsgesetz zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (EG KESR):

§ 48 EG KESR
Verfahrensleitung
Ist das Kollegium für ein Geschäft zuständig, leitet die Präsidentin oder der Präsident der KESB das Verfahren. Sie oder er kann die Verfahrensleitung an ein anderes Mitglied delegieren

§ 51 EG KESR
Anhörung b. Durchführung
1 Die Anhörung der betroffenen Person erfolgt durch ein Mitglied der KESB, wenn
a. die Beschränkung oder der Entzug der Handlungsfähigkeit oder der elterlichen Sorge oder der Entzug der Obhut Gegenstand des Verfahrens bildet oder
b. angenommen werden muss, dass die betroffene Person mit der infrage stehenden Massnahme nicht einverstanden ist.
2 In den übrigen Fällen kann die Anhörung durch geeignete Mitarbeitende des Sekretariats erfolgen.
3 In besonderen Fällen kann die Anhörung einer aussenstehenden Fachperson übertragen werden.
4 Aus wichtigen Gründen kann die betroffene Person die Anhörung durch das Kollegium verlangen.

§ 53 EG KESR
Einvernahme von Zeuginnen und Zeugen
Die KESB kann Zeuginnen und Zeugen befragen. Sie kann die Befragung an ein Mitglied delegieren.

Aus dieser Regelung ist ersichtlich, dass die Anhörung durch die Kollegialbehörde die Ausnahme darstellt und folglich auch in der Praxis keine grosse Bedeutung hat. In der Regel erfolgt die Anhörung durch ein einzelnes Mitglied der Behörde. Praktisch wird dieses regelmässig von einer Person des Rechtsdienstes begleitet. In gewissen Fällen ist es nicht einmal notwendig, dass ein Mitglied der KESB die Anhörung durchführt. Stattdessen kann die Anhörung durch einen geeigneten Mitarbeiter der KESB durchgeführt werden. Ausserdem kann die Anhörung an eine externe Fachperson delegiert werden, was insbesondere bei Kleinkindern angezeigt sein kann.

Unabhängig von der kantonalen Gesetzgebung stellt sich die Frage, ob nicht ein verfassungsmässiger Anspruch (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK) besteht, von der Gesamtbehörde angehört zu werden.

In einem Fall, den das Bundesgericht im Urteil vom 2. Juni 2016 (BGE 142 I 188 = 5A_724/2015) zu beurteilen hatte, machten die Beschwerdeführer geltend, dass sie Anspruch gehabt hätten, beim Verwaltungsgericht als Beschwerdeinstanz nicht nur vom Instruktionsrichter, sondern vom gesamten Spruchkörper angehört zu werden. Das Bundesgericht verneinte dies.

3.3.2 Vor der KESB haben zahlreiche Verhandlungen stattgefunden, an welchen sich die Eltern persönlich und mündlich äussern konnten. Auch vor dem Verwaltungsgericht hat eine Verhandlung stattgefunden, an welcher der Instruktionsrichter und die Gerichtsschreiberin teilgenommen haben und an welcher sich die Parteien, begleitet von ihrem Anwalt, umfassend persönlich und mündlich äussern konnten. Das durch den Instruktionsrichter und die Gerichtsschreiberin vertretene Gericht konnte einen persönlichen Eindruck über die Parteien gewinnen.

Die Beschwerdeführer monieren, Art. 6 Ziff. 1 EMRK räume ihnen einen Anspruch ein, vom gesamten Spruchkörper angehört zu werden. Sie irren. Die EMRK enthält keine Vorschriften zum Beweisrecht (Urteil Mantovanelli gegen Frankreich Nr. 21497/93 vom 18. März 1997 § 34), weder über die Beweislast, die Zulässigkeit von Beweismitteln, den Beweiswert derselben (Urteil Tiemann gegen Frankreich und Deutschland Nr. 47458/99 vom 27. April 2000) noch darüber, wie Beweise zu würdigen sind (Urteil Garcia Ruiz gegen Spanien Nr. 30544/96 vom 21. Januar 1999 § 28; zur antizipierten Beweiswürdigung vgl. Urteil Centro Europa 7 S.r.l. und Di Stefano gegen Italien Nr. 38433/09 vom 7. Juni 2012 § 198). Ebenso wenig ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass für die Abnahme von Beweisen stets alle Richter des Spruchkörpers anwesend sein müssten. Die Vorgabe, dass das Gericht einen persönlichen Eindruck über die Partei soll gewinnen können, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Würdigung des Sachverhaltes. Was für das Beweisrecht im Allgemeinen gilt, ist auch für die persönliche Anhörung einer Partei massgebend. Daher wird der Pflicht, eine Partei persönlich und mündlich anzuhören, nicht nur dann Genüge getan, wenn alle Richter des Spruchkörpers sich einen persönlichen Eindruck über die Partei machen können; es genügt, wenn eine Delegation dies tun kann.

Mithin hat das Verwaltungsgericht dem von den Beschwerdeführern behaupteten, hier nicht ohne Weiteres gegebenen Anspruch, persönlich und mündlich angehört zu werden, Genüge getan. Die Rüge erweist sich als unbegründet, soweit überhaupt darauf eingetreten werden kann. (…)

In Bezug auf die KESB gilt das Gleiche. Das Bundesgericht führte im Urteil vom 6. Februar 2017 (5A_367/2016) Folgendes aus:

3.2. Die Beschwerdeführerin irrt, wenn sie der Meinung ist, dass sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf hat, von allen Mitgliedern des Familiengerichts Lenzburg und nicht bloss vom Instruktionsrichter angehört zu werden. Es ist im Gegenteil üblich und nicht zu beanstanden, die Beweisaufnahme, zu der in einem weiteren Sinn auch die Anhörung der Parteien gehört, einem Instruktionsrichter zu überlassen (vgl. BGE 142 I 188 E. 3.3.2 S. 194 f.). (…)

Im Kanton Aargau übt das Familiengericht die Aufgabe der KESB aus.

In familienrechtlichen gerichtlichen Verfahren stellt sich im Übrigen dieselbe Frage in der Regel gar nicht, da für diese Verfahren meist ein Einzelgericht und nicht ein Kollegialgericht zuständig ist.

In der Zivilprozessordnung findet sich immerhin in Bezug auf die Beweisabnahme folgende Bestimmung.

Art. 155 ZPO
Beweisabnahme
1 Die Beweisabnahme kann an eines oder mehrere der Gerichtsmitglieder delegiert werden.
2 Aus wichtigen Gründen kann eine Partei die Beweisabnahme durch das urteilende Gericht verlangen.
3 Die Parteien haben das Recht, an der Beweisabnahme teilzunehmen.

Eine Partei kann somit die Abnahme von Beweisen (Art. 155 Abs. 2 ZPO) vor dem Kollegialgericht bzw. die Anhörung vor der Gesamtbehörde (§ 51 Abs. 4 EG KESB) verlangen, wenn wichtige Gründe vorliegen. Was als wichtige Gründe zu gelten haben, muss im Einzelfall entschieden werden. Von der Tendenz her ist davon auszugehen, dass eher zurückhaltend das Vorliegen von wichtigen Gründen angenommen wird.

Der Vorentwurf für ein Bundesgesetz über das Verfahren vor den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden des Zürcher Alt Oberrichters Daniel Steck aus dem Jahr 2003, der schliesslich nicht Gesetz geworden ist, sah interessanterweise vor, dass die betroffene Person eine Anhörung durch die Kollegialbehörde verlangen könne. Die Geltendmachung von wichtigen Gründen war nicht erforderlich.

Art. 31 Vorentwurf
Persönliche Anhörung
1 Bei der Anordnung von Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen ist die betroffene Person persönlich anzuhören. Auf ihr Verlangen erfolgt die Anhörung durch die Kollegialbehörde.
2 Auf die persönliche Anhörung kann verzichtet werden, wenn diese nach den gesamten Umständen als unverhältnismässig erscheint, wie insbesondere bei einer Massnahme nach Artikel 312 Ziffer 2 ZGB. Der Anspruch auf rechtliches Gehör bleibt gewahrt.
3 Kinder werden in geeigneter Weise durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde oder durch eine beauftragte Drittperson angehört, soweit nicht ihr Alter oder wichtige Gründe dagegen sprechen. Vorbehalten bleiben Vermögensschutzmassnahmen.

Meines Erachtens ist die aktuelle Rechtslage richtig. Anhörungen sollen in der Regel nur durch ein Behördenmitglied durchgeführt werden. Eine Anhörung durch die Gesamtbehörde soll nur in besonderen Fällen durchgeführt werden, wenn wichtige Gründe vorliegen, welche eine Anhörung durch ein einzelnes Behördenmitglied als ungenügend erscheinen lassen.