COVID-19 und abstrakte Normenkontrolle

In der Schweiz können nur kantonale Erlasse gerichtlich direkt überprüft werden, ob sie gegen Bundesgesetze, die Bundesverfassung oder Völkerrecht verstossen (Art. 82 Bst. b BGG). Bundesgesetze können gar nicht auf ihre Vereinbarung mit der Bundesverfassung und dem Völkerrecht überprüft werden (Art. 190 BV). Verordnungen des Bundesrates können nicht direkt angefochten werden, jedoch überprüft das Bundesgericht im Rahmen eines konkreten Anwendungsfalles vorfrageweise die Rechtmässigkeit der Verordnung.

Im Urteil vom 15. April 2020 (2C_280/2020) erläuterte das Bundesgericht diese Grundsätze in Bezug auf die Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus:

1. Der Schweizerische Bundesrat hat am 13. März 2020 unter anderem gestützt auf Art. 7 des Epidemiegesetzes vom 28. September 2012 (SR 818.101) die Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19) erlassen (COVID-19-Verordnung; SR 818.101.24). Diese ist zur Verhinderung der Verbreitung und zur Eindämmung des Coronavirus (COVID-19; vgl. Art. 1 Abs. 2 der COVID-19-Verordnung 2) mit gewissen Beeinträchtigungen von verfassungsmässigen Rechten verbunden.

2.1. Mit Eingabe vom 14. April 2015 stellt A. im Wesentlichen den Antrag, die Verordnung 2 des Bundesrats über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19) aufzuheben. Sie macht geltend, dass es nicht um eine vorfrageweise Prüfung der COVID-19-Verordnung 2 gehe, sondern „um die Kontrolle der Verordnung selbst (abstrakte Normenkontrolle) „.

2.2. Die Beschwerde ist offensichtlich unzulässig; es ist darauf durch den Präsidenten als Instruktionsrichter im Verfahren nach Art. 108 Abs. 1 BGG nicht einzutreten: Das Bundesgericht beurteilt Beschwerden gegen kantonale Erlasse (Art. 82 lit. b BGG). Bundeserlasse unterliegen keiner abstrakten Normenkontrolle. Das Bundesgericht kann eine bundesrätliche Verordnung nur vorfrageweise im Rahmen einer inzidenten Normenkontrolle auf ihre Gesetz- und Verfassungsmässigkeit hin prüfen. Eine solche steht hier nicht zur Diskussion; die Beschwerdeführerin macht ausdrücklich geltend, dass gegen sie keine Verfügung ergangen sei und sie eine abstrakte Kontrolle der Verfassungsmässigkeit der COVID-19-Verordnung 2 verlange; eine solche ist nach dem Bundesgerichtsgesetz indessen ausgeschlossen (vgl. Heinz AEMISEGGER/KARIN SCHERRER REBER, IN: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger/Kneubühler [Hrsg.], Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 29 zu Art. 82 BGG; Hansjörg SEILER, IN: S eiler/von Werdt/Güngerich/Oberholzer [Hrsg.], Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2. Aufl. 2015, N. 74 und 77 zu Art. 82 BGG; Alain WURZBURGER, IN: Corboz/Wurzburger/Ferrari/Frésard/Aubry Girardin [Hrsg.], Commentaire de la LTF, 2. Aufl. 2014, N. 18 zu Art. 82 BGG; Rhinow/KOLLER/KISS/THURNHERR/BRÜHL-MOSER, Öffentliches Prozessrecht, 2. Aufl. 2010, S. 496 N. 1888; vgl. auch BGE 139 II 384 ff.).

Ebenso unzulässig sind die weiteren Anträge auf Feststellung der Verfassungs- und Gesetzwidrigkeit der Verordnung oder auf deren Anpassung, sowie der damit verbundene Antrag auf Anordnung eines Gutachtens.

Das Datum der Beschwerde (14. April 2015) steht so im Urteil. Ob die Beschwerdeführerin oder das Bundesgericht für diesen Fehler verantwortlich ist, ist unklar. Wenn die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde falsch datiert hat, würde das Bundesgericht jedenfalls normalerweise die Bemerkung „recte: 2020“ einfügen.

Nachtrag 16.6.2021

Eine Gruppe von 396 Personen verlangte vom Bundesamt für Gesundheit, dass festzustellen sei, dass sie nicht verpflichtet seien, bei der Nutzung des öffentlichen Verkehrs eine Gesichtsmaske zu tragen. Bei Ablehnung des Feststellungsantrages sei eine anfechtbare Verfügung (Feststellungsverfügung) zu erlassen. Das BAG erliess eine Nichteintretensverfügung. Dagegen erhoben die Beschwerdeführenden Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Im Urteil vom 25. Mai 2021 (C-5074/2020) zog das Bundesverwaltungsgericht insbesondere Folgendes in Betracht:

4.3 Die Prüfung, ob eine Norm mit dem höherrangigen Recht übereinstimmt, wird als Normenkontrolle bezeichnet (RHINOW/KOLLER/KISS/THURNHERR/BRÜHLMOSER, Öffentliches Prozessrecht, 2.Aufl. 2010, Rz.703). Die abstrakte Normenkontrolle ist die Prüfung der Gültigkeit einer Norm in einem besonderen Verfahren, unabhängig von einer konkreten Anwendung. Bundeserlasse und damit auch Verordnungen des Bundesrates unterliegen keiner abstrakten Normenkontrolle. Folglich können Verordnungen des Bundesrates nicht selbständig angefochten werden, da sie generell-abstrakte Regelungen enthalten, für welche die Verwaltungsrechtspflege im Verfahren nach VwVG bzw. VGG eine abstrakte Normenkontrolle nicht vorsieht. Verordnungen des Bundesrates als generell-abstrakte Rechtsnormen des Bundes können mithin von den Rechtsanwendungsbehörden nicht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle überprüft werden (vgl. Art. 189 Abs. 4 BV; Urteil des BVGer C-1031/2012 vom 7. Mai 2014 E.8.3 m.w.H.; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 4. Aufl. 2016, S. 190 Rz. 17a; MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, a.a.O., Rz. 2.14 sowie FN 47 m.w.H.; vgl. dazu auch BENJAMIN SCHINDLER, VwVG-Kommentar, Art. 49 N 24 sowie FN 146; AEMISEGGER/SCHERRER REBER,in: Niggli/Uebersax/Wiprächtiger/Kneubühler [Hrsg.], Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 3.Aufl. 2018, Art. 82 N. 29; RHINOW/KOLLER/KISS/THURNHERR/BRÜHLMOSER, a.a.O., Rz.1888).

Das Bundesgericht und auch das Bundesverwaltungsgericht können eine bundesrätliche Verordnung nur vorfrageweise im Rahmen einer akzessorischen (inzidenten, konkreten, vorfrageweisen) Normenkontrolle, d.h.im Rahmen eines konkreten Rechtsanwendungsaktes, auf ihre Gesetz- und Verfassungsmässigkeit hin prüfen (vgl. dazu nachfolgende E.4.4). Anders als bei der abstrakten Normenkontrolle bildet bei der konkreten Normenkontrolle nicht der Erlass selbst das Anfechtungsobjekt, sondern ein konkreter Rechtsanwendungsakt. Dabei wird im Zuge der Anfechtung des Rechtsanwendungsaktes neben oder anstelle der Hauptfrage, ob der Einzelakt (Verfügung) rechtmässig ist, auch die Vorfrage aufgeworfen, ob die Norm, auf welche sich der Rechtsanwendungsakt stützt, nicht ihrerseits gegen höherrangiges Recht verstösst. Die Normenkontrolle ist dabei Teil der Überprüfung der Rechtmässigkeit des Einzelaktes. Stellt die angerufene Behörde bei der vorfrageweisen Prüfung fest, dass die Norm, auf die sich der Rechtsanwendungsakt stützt, gegen höherrangiges Recht verstösst, kann sie die Norm im konkreten Fall nicht anwenden und den Rechtsanwendungsakt aufheben (BGE 138 I 61 E.7.1; 132 I 229 E.6.4; KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Öffentliches Verfahrensrecht, 2. Aufl. 2015, S.417 Rz.1712-1714 und S.428 f. Rz. 1760 f.; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., Rz. 370; HÄFELIN/HALLER/KELLER/THURNHERR, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10.Aufl. 2020, Rz. 2093 ff.). Eine abstrakte Kontrolle der Verfassungsmässigkeit der COVID-19-Verordnung besondere Lage respektive einzelner Bestimmungen dieser bundesrätlichen Verordnung sehen weder der Verfassungs- noch der Gesetzgeber vor (Urteile des BGer 2C_776/2020 vom 23. September 2020 E. 2.2; 2C_280/2020 vom 15. April2020 E.2.2 m.H.; Urteile des BVGer C-1828/2020 vom 4. Mai 2020 E. 2.2; C-1624/2020 vom 25.März 2020 S. 3 m.H.; vgl. dazu auch ANDREAS STÖCKLI, Gewaltenteilung in ausserordentlichen Lagen – quo vadis?, in: Jusletter 15. Februar 2021, Rz. 28; für die Rechtslage in Kantonen vgl. z.B. Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich AN.2020.00011 vom 22.Oktober 2020 und AN.2020.00004 vom 28.Mai 2020).
(…)
5.1 Vorliegend steht fest, dass die Beschwerdeführenden nicht eine in Anwendung von Art. 3a der Covid-19-Verordnung besondere Lage erlassene Einzelverfügung anfechten, so dass eine akzessorische Normenkontrolle der bundesrätlichen Verordnung im Rahmen der Prüfung einer Individualverfügung von vornherein ausser Betracht fällt.

Vielmehr bringen sie in ihrer Beschwerdebegründung im Wesentlichen vor, dass das Maskentragen in Alltagssituationen wie bei der Benützung des öffentlichen Verkehrs «je nach mentaler Verfassung, medizinischer Konstitution des Maskenträgers und den konkreten Umständen zu Sauerstoffmangel, Kopfweh, Beklemmungsgefühlen oder sogar zu Infektionen mit Keimen und Pilzen führen» könne. «Einige Beschwerdeführer» hätten das schon mehrfach erlebt (wie z.B. Kopfweh oder leichtes Schwindelgefühl). Zudem erschwere die Maske die Kommunikation mit anderen Menschen und schaffe Abstand, wenn nicht Misstrauen. Somit betreffe die hoheitlich angeordnete Maskenpflicht ihren höchstpersönlichen Bereich und stelle einen Eingriff in ihre körperliche und geistige Unversehrtheit dar (Rz. 8 und 30 der Beschwerdeschrift). Grundrechtseinschränkungen bedürften einer sorgfältigen Güterabwägung. Entscheidend sei, ob die zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vor den Risiken durch COVID-19 angeordnete Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr zur Erreichung des Ziels geeignet und erforderlich sei und ob sie auch im Sinne der Abwägung der Vor- und Nachteile dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz entspreche (Rz. 10 der Beschwerdeschrift). Die mit Art. 3a Covid-19 Verordnung besondere Lage angeordnete Maskenpflicht sei rechtswidrig, weil der Nutzen der Maskenpflicht alles andere als erwiesen sei (Rz. 11 der Beschwerdeschrift). Zudem gehe es ihnen nicht um eine Befreiung von der Maskenpflicht aus individuellen Gründen, «sondern um die Feststellung, dass schon keine rechtswirksame Verpflichtung zum Tragen einer Maske im öV vorliegt» (Rz. 25 der Beschwerdeschrift).

Aus diesen Rügen geht hervor, dass die Beschwerdeführenden nicht auf einen konkreten Rechtsanwendungsakt bzw. eine Individualverfügung Bezug nehmen, sondern vielmehr die Norm als solche generell als rechtswidrig erachten. Zu Recht wendet die Vorinstanz demnach ein, dass die Beschwerdeführenden mit ihrem Antrag auf Erlass auf einer Feststellungsverfügung betreffend Befreiung von der Maskentragpflicht bei der Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln im Ergebnis auf eine Überprüfung der Rechtmässigkeit der vom Bundesrat verordneten Massnahmen abzielen. Denn das Ziel der Beschwerdeführenden besteht darin, mit dem Instrument des Feststellungsbegehrens Art. 3a der Covid-19-Verordnung besondere Lage einer gerichtlichen Überprüfung auf seine Verfassungsmässigkeit hin zu unterziehen, und zwar generell und ohne Berufung auf einen individuell-konkreten Anwendungsfall. Mit anderen Worten beabsichtigen sie mit ihrem Feststellungsbegehren eine Rechtslage für eine (bestimmte) Vielzahl von Personen und eine unbestimmte Zahl künftiger Sachverhalte festzustellen, ohne dass sie sich auf einen konkreten Anwendungsfall in Form einer Einzelverfügung zu stützen vermöchten. Damit verfolgen sie im Ergebnis nichts anderes als eine abstrakte Normenkontrolle auf dem Weg des Begehrens um Erlass einer Feststellungsverfügung.

Bei Art. 3a der Covid-19-Verordnung besondere Lage handelt es sich um eine (auf Art. 6 Abs. 2 Bst. a und b EpG gestützte und damit unselbständige) bundesrätliche Verordnung, welche als generell-abstrakte Rechtsnorm des Bundes nicht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle überprüft werden kann (vgl. dazu E. 4.3 und 4.4 hievor). Ein schutzwürdiges Feststellungsinteresse besteht für diese Konstellation nicht, denn die Bejahung des Anspruchs auf Erlass einer Feststellungsverfügung hätte im Ergebnis eine abstrakte Normenkontrolle von Art.3a der Covid-19-Verordnung besondere Lage zur Folge, welche indes – wie vorstehend dargelegt (E. 4.6.3 hievor) – vom Verfassungs- und Gesetzgeber nicht vorgesehen ist. Die abstrakte Überprüfung von Erlassen kann vorliegend auch nicht auf dem Umweg über eine Feststellungsverfügung herbeigeführt werden (Urteil des EVG 1P.560/1999 vom 14. Februar 2000 E.2c; BGE 108 Ib 540 E.3; KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, a.a.O., Rz. 340 S.122 m.w.H.). Personen, welche sich durch bundesrechtlich vorgesehene Massnahmen in ihren Grundrechten verletzt fühlen, sind vielmehr darauf angewiesen, konkrete, sie betreffende Vollzugsakte anzufechten ([zur Publikation bestimmtes] Urteil des Bger 1C_377/2019 vom 1.Dezember 2020 E.9.1). Diese Grundsätze gelten auch für das BAG als Vorinstanz.

Daraus folgt, dass das BAG zu Recht zum Schluss gelangt ist, dass das Rechtsbegehren der Beschwerdeführenden auf die Beantwortung einer rechtlichen Grundsatzfrage respektive auf die Klärung einer abstrakten Rechtslage (Rechtmässigkeit der angeordneten Maskenpflicht) abzielt und ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung, dass für die Beschwerdeführenden keine rechtswirksame Verpflichtung zum Tragen einer Maske im öffentlichen Verkehr bestehe, zu Recht verneint hat.