Die KESB darf keine Fälle überweisen

Was in der öffentlichen Diskussion um die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden völlig vergessen geht, ist, dass die KESB kein Monopol im Bereich „Kindesschutz“ hat. Vielmehr besteht eine konkurrenzierende Zuständigkeit zwischen KESB und Gerichten. Es gilt deshalb immer zunächst zu klären, ob die KESB oder ob ein Gericht sachlich zuständig ist.

Art. 315 ZGB
C. Kindesschutz / VII. Zuständigkeit / 1. Im Allgemeinen
1 Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.
2 Lebt das Kind bei Pflegeeltern oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern oder liegt Gefahr im Verzug, so sind auch die Behörden am Ort zuständig, wo sich das Kind aufhält.
3 Trifft die Behörde am Aufenthaltsort eine Kindesschutzmassnahme, so benachrichtigt sie die Wohnsitzbehörde.

Art. 315a ZGB
C. Kindesschutz / VII. Zuständigkeit / 2. In eherechtlichen Verfahren / a. Zuständigkeit des Gerichts
1 Hat das Gericht, das für die Ehescheidung oder den Schutz der ehelichen Gemeinschaft zuständig ist, die Beziehungen der Eltern zu den Kindern zu gestalten, so trifft es auch die nötigen Kindesschutzmassnahmen und betraut die Kindesschutzbehörde mit dem Vollzug.
2 Bestehende Kindesschutzmassnahmen können auch vom Gericht den neuen Verhältnissen angepasst werden.
3 Die Kindesschutzbehörde bleibt jedoch befugt:
1. ein vor dem gerichtlichen Verfahren eingeleitetes Kindesschutzverfahren weiterzuführen;
2. die zum Schutz des Kindes sofort notwendigen Massnahmen anzuordnen, wenn sie das Gericht voraussichtlich nicht rechtzeitig treffen kann.

Art. 315b ZGB
C. Kindesschutz / VII. Zuständigkeit / 2. In eherechtlichen Verfahren / b. Abänderung gerichtlicher Anordnungen
1 Zur Abänderung gerichtlicher Anordnungen über die Kindeszuteilung und den Kindesschutz ist das Gericht zuständig:
1. während des Scheidungsverfahrens;
2. im Verfahren zur Abänderung des Scheidungsurteils gemäss den Vorschriften über die Ehescheidung;
3. im Verfahren zur Änderung von Eheschutzmassnahmen; die Vorschriften über die Ehescheidung sind sinngemäss anwendbar.
2 In den übrigen Fällen ist die Kindesschutzbehörde zuständig.

Art. 134 ZGB
F. Kinder / II. Veränderung der Verhältnisse
1 Auf Begehren eines Elternteils, des Kindes oder der Kindesschutzbehörde ist die Zuteilung der elterlichen Sorge neu zu regeln, wenn dies wegen wesentlicher Veränderung der Verhältnisse zum Wohl des Kindes geboten ist.
2 Die Voraussetzungen für eine Änderung der übrigen Elternrechte und -pflichten richten sich nach den Bestimmungen über die Wirkungen des Kindesverhältnisses.
3 Sind sich die Eltern einig, so ist die Kindesschutzbehörde für die Neuregelung der elterlichen Sorge, der Obhut und die Genehmigung eines Unterhaltsvertrages zuständig. In den übrigen Fällen entscheidet das für die Abänderung des Scheidungsurteils zuständige Gericht.
4 Hat das Gericht über die Änderung der elterlichen Sorge, der Obhut oder des Unterhaltsbeitrages für das minderjährige Kind zu befinden, so regelt es nötigenfalls auch den persönlichen Verkehr oder die Betreuungsanteile neu; in den andern Fällen entscheidet die Kindesschutzbehörde über die Änderung des persönlichen Verkehrs oder der Betreuungsanteile.

Scheidungs- und Eheschutzurteile in Bezug auf Kinderbelange werden durch das Gericht abgeändert. Sind sich die Parteien jedoch einig, ist die KESB zuständig.

Art. 179 ZGB
K. Schutz der ehelichen Gemeinschaft / II. Gerichtliche Massnahmen / 6. Änderung der Verhältnisse
1 Ändern sich die Verhältnisse, so passt das Gericht auf Begehren eines Ehegatten die Massnahmen an oder hebt sie auf, wenn ihr Grund weggefallen ist. Die Bestimmungen über die Änderung der Verhältnisse bei Scheidung gelten sinngemäss.
2 Nehmen die Ehegatten das Zusammenleben wieder auf, so fallen die für das Getrenntleben angeordneten Massnahmen mit Ausnahme der Gütertrennung und der Kindesschutzmassnahmen dahin.

Für das Verfahren der KESB ist die Zivilprozessordnung (ZPO) ergänzend anwendbar, falls das Einführungsgesetz zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (EG KESR) keine eigene Regelung vorsieht (§ 40 Abs. 3 EG KESR). Art. 63 ZPO ist die einzige Bestimmung, die sich zur Frage der fehlenden Zuständigkeit äussert.

Art. 63 ZPO
Rechtshängigkeit bei fehlender Zuständigkeit und falscher Verfahrensart
1 Wird eine Eingabe, die mangels Zuständigkeit zurückgezogen oder auf die nicht eingetreten wurde, innert eines Monates seit dem Rückzug oder dem Nichteintretensentscheid bei der zuständigen Schlichtungsbehörde oder beim zuständigen Gericht neu eingereicht, so gilt als Zeitpunkt der Rechtshängigkeit das Datum der ersten Einreichung.

Der Bundesrat hielt zu diesem Artikel in der Botschaft vom 28. Juni 2006 klar fest:

Eine Überweisung von Amtes wegen findet dagegen nicht statt.

Mangels einer gesetzlichen Grundlage ist es der KESB somit nicht möglich, Rechtsbegehren an das sachlich zuständige Gericht oder an die örtlich zuständige KESB zu überweisen.

Nach der ZPO des Kantons Zürich, die 2011 durch die eidgenössische ZPO abgelöst worden ist, galt im Übrigen Folgendes:

§ 112 ZPO-ZH
Prozessüberweisung
1 Erklärt sich das angerufene Gericht als unzuständig, so wird der Prozess auf Antrag des Klägers dem von ihm als unzuständig bezeichneten Gericht überwiesen, wenn dieses nicht offensichtlich unzuständig ist.

Fall 1:

A. reichte beim Bezirksgericht X. eine Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils (Reduktion des Kinderunterhaltes) ein. Zwei Monate später schrieb A. an die KESB Dübendorf und ersuchte um Hilfe in Bezug auf die Durchsetzung des Besuchsrechts. Die KESB trat, nachdem sie vom laufenden Abänderungsverfahren beim Bezirksgericht X. erfahren hatte, auf das Begehren von A. mangels Zuständigkeit nicht ein, und stellte die Akten dem Bezirksgericht X. zu. In der Folge zog A. die Abänderungsklage zurück. Das Bezirksgericht schrieb das Verfahren ab.

Zwei Monate später wandte sich A. erneut an die KESB und ersuchte um Kindesschutzmassnahmen (Besuchsrechtsbeistand), da er das gerichtlich vorgesehene Besuchsrecht nicht wahrnehmen könne. Die KESB stellte sich dabei auf den Standpunkt, dass es sich um eine abgeurteilte Sache handle, da mit der Abschreibungsverfügung des Bezirksgerichts auch über das Besuchsrecht entschieden worden sei, weshalb die KESB auf das Begehren nicht eintrat (Art. 59 Abs. 1 und Abs. 2 Bst. e i.V.m. Art. 241 Abs. 2 ZPO).

Der Bezirksrat Uster äusserte sich im Urteil vom 6. Februar 2016 wie folgt und entschied in der Folge materiell über das Begehren:

4.3 Art. 63 ZPO regelt die Rechtshängigkeit bei fehlender Zuständigkeit und falscher Verfahrensart. Art. 63 ZPO statuiert, dass, wenn eine Eingabe, die mangels Zuständigkeit zurückgezogen oder auf die nicht eingetreten wurde, innert eines Monats seit dem Rückzug oder dem Nichteintretensentscheid bei der zuständigen Schlichtungsbehörde oder beim zuständigen Gericht neu eingereicht wird, so gilt als Zeitpunkt der Rechtshängigkeit das Datum der ersten Einreichung. Eine Prozessüberweisung ist nach der ZPO in einem solchen Fall nicht möglich. (…)

4.5 Der Verfahrensablauf zeigt auf, dass der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt eine Klage betreffend Regelung bzw. Durchsetzung des persönlichen Verkehrs beim Bezirksgericht X. eingereicht hat. Nach den zivilprozessualen Vorschriften wäre es jedoch an ihm gelegen, nach dem Empfang des Einstellungsentscheides bzw. Nichteintretensentscheids der KESB innert eines Monats eine diesbezügliche Klage beim zuständigen Gericht einzureichen (Art. 63 Abs. 1 ZPO). Eine Prozessüberweisung, wie sie vorliegend von der KESB gedacht war, ist nicht zulässig und entfaltet daher auch keine Rechtshängigkeit. Ferner wurde der Beschwerdeführer auch nicht vom Bezirksgericht X. darauf hingewiesen, dass er eine ausdrückliche Klage um Regelung des persönlichen Verkehrs einreichen müsse. (…)

Fall 2:

A. wurde eheschutzrichterlich getrennt. Das Kind wurde in die gemeinsame Obhut der Eltern gegeben. Kurze Zeit später wollte A. zusammen mit dem Kind in ihre Heimat zurückkehren, weshalb sie bei der KESB Bülach Süd ein Gesuch stellte, dass ihr die Auswanderung zu bewilligen sei.

Die KESB leitete das Begehren mit einem Schreiben dem Bezirksgericht Bülach (Einzelgericht) weiter, da das Gesuch inhaltlich als Abänderung eines Eheschutzurteils aufgefasst worden war. In der Folge eröffnete das Bezirksgericht Bülach ein Verfahren betreffend Abänderung von Eheschutzmassnahmen. Später beantragte A., dass das Verfahren abzuschreiben sei, weil sie beim Bezirksgericht gar kein Abänderungsbegehren gestellt habe.

Das Bezirksgericht Bülach äusserte sich in der Verfügung vom 14. März 2016 wie folgt:

3. Rechtshängigkeit

3.1. Für das gerichtliche Verfahren finden die Bestimmungen der Zivilprozessordung (ZPO) Anwendung, wonach Eheschutzbegehren dem summarischen Verfahren unterliegen (Art. 271 ZPO) und mittels eines Gesuchs in schriftlicher Form, in einfachen und dringenden Fällen auch mündlich zu Protokoll erklärt, rechtshängig gemacht werden (Art. 252 ZPO).

3.2. Wie die Klägerin zurecht schreibt, bildet Art. 63 ZPO keine Grundlage für eine Prozessüberweisung. Eine solche ist weder bei örtlicher noch bei sachlicher Unzuständigkeit vorgesehen. Vielmehr hat die sich für unzuständig erachtende Behörde einen Nichteintretensentscheid zu fällen, worauf es der klagenden Partei freisteht, innert der Monatsfrist von Art. 63 ZPO beim zuständigen Gericht ein neues Begehren einzureichen, um die Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der ersten Gesuchseinreichung zu erwirken. Da auf das Verfahren vor der KESB subsidiär die Bestimmungen der ZPO sinngemäss anwendbar sind (§ 40 Abs. 3 EG KESR), gelten diese Rechtsfolgen auch bei fehlender Zuständigkeit der angerufenen KESB (vgl. Berger-Steiner, BEK-ZPO, Rz 21/22 und Rz 37 zu Art. 63; Infanger BSK-ZPO, Rz 4 zu Art. 63; BGE 4A_592/2013 Erw. 3.2; BGE 4A_332/2015 Erw. 4.2 und Erw. 4.4.2).

3.3. Die Eingabe der Klägerin bei der KESB und die Überweisung ans Gericht begründeten somit keine Rechtshängigkeit eines Eheschutzverfahrens beim Gericht. Die Klägerin unternahm auch nach der Erfassung des Verfahrens beim Gericht von sich aus keine Schritte, die darauf schliessen liessen, sie wolle ihre Eingabe beim Gericht rechtshängig machen. Sie reagierte allerdings nicht auf die an sie gerichteten Eingaben des Gerichts, wobei einschränkend beizufügen ist, dass kein Zustellnachweis vorliegt.

4. Gegenstandslosigkeit

4.1. Da die Prozessüberweisung keine Rechtshängigkeit zu begründen vermochte und die Klägerin gemäss ihrer Eingabe vom 10. März 2016 ausdrücklich kein Gesuch um Abänderung des Eheschutzentscheides vom xx.xx.2015 stellt, ist das vorliegende Verfahren abzuschreiben (Art. 242 ZPO).

Fazit:

Wenn sich die KESB für ein Begehren nicht als zuständig erachtet, hat sie einen formellen Nichteintretensentscheid zu fällen, unter Hinweis auf Art. 63 ZPO. Die KESB ist nicht befugt, das Begehren an das sachlich zuständige Gericht oder an die örtlich zuständige KESB zu überweisen bzw. weiterzuleiten.

Sollte das Bezirksgericht dennoch von der KESB ein Begehren zugewiesen erhalten, so hat es entweder a) das Begehren sofort wieder an die KESB zurückzuweisen oder b) zunächst die Antragstellerin, bevor überhaupt formell ein Verfahren eröffnet wird, anzufragen, ob sie ihr Gesuch bei der KESB als gerichtliches Begehren verstanden haben wolle. Erst wenn die Antragstellerin dies bejaht, kann das Gericht formell ein Verfahren eröffnen.

Die vorangehenden Ausführungen beziehen sich auf Rechtsbegehren, mit welchen bezweckt wird, die Rechtslage konkret zu verändern. Anders verhält es sich mit Gefährdungsmeldungen (Art. 443 ZGB), mit denen der KESB primär ein Missstand gemeldet wird. Wenn bei der KESB eine Gefährdungsmeldung eingeht, diese jedoch Kenntnis davon hat, dass sich bereits ein Gericht in einem eherechtlichen Verfahren mit der Thematik beschäftigt, so ist es der KESB erlaubt, die Gefährdungsmeldung an das zuständige Gericht weiterzuleiten (Art. 444 Abs. 2 ZGB).