Kindesentführung in die Schweiz

1. Allgemeines

In den Medien liest man häufig, dass Elternteile (meist Väter) ihre Kinder ins Ausland entführen. Dies ist insbesondere in jenen Fällen ein grosses Problem, bei denen die Kinder in Länder entführt werden, welche das Haager Kindesentführungsübereinkommen nicht ratifiziert haben, da hier eine Rückführung der Kinder praktisch nicht möglich ist.

Der gegenteilige Fall, dass Elternteile (nicht selten Mütter) ihre Kinder aus dem Ausland in die Schweiz verbringen, ist leider auch nicht selten. Häufig geschieht dies, weil man sich in der Schweiz die besseren gesetzlichen Rahmenbedingungen für einen Entscheid im eigenen Sinne erwartet (so genanntes „forum shopping“). In den letzten Jahren wurde in den Medien namentlich ausführlich über die Fälle „Woods“ (Australien) und „Ruben“ (Italien) berichtet.

2. Begriff der Kindesentführung

Vorliegend geht es nicht um die strafrechtliche, sondern einzig um die zivilrechtliche Bewertung des widerrechtlichen Verbringens von Kindern in ein anderes Land.

Das Haager Übereinkommen über zivilrechtliche Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (HKÜ) (0.211.230.02) definiert, was als Kindesentführung zu gelten hat:

Art. 3 Abs. 1 HKÜ
(1) Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn
a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
(2) Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.

Gemäss dieser weiten Definition werden auch Fälle erfasst, die nicht den geläufigen (strafrechtlichen) Vorstellungen einer Kindesentführung entsprechen. Heutzutage ist regelmässig davon auszugehen, dass ein Elternteil nicht allein über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann. Folglich ist jedes Verbringen des Kindes ohne Zustimmung des anderen Elternteils eine Kindesentführung im Sinne des Übereinkommens. Eine Zustimmung des anderen Elternteils ist zum Beispiel nicht erforderlich, wenn dem betreuenden Elternteil gerichtlich das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht zugesprochen worden ist und kein gerichtliches Ausreiseverbot vorliegt.

In der Schweiz etwa gilt seit dem 1. Juli 2014 Folgendes:

Art. 301a ZGB
B. Inhalt / II. Bestimmung des Aufenthaltsortes
1 Die elterliche Sorge schliesst das Recht ein, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen.
2 Üben die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam aus und will ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so bedarf dies der Zustimmung des andern Elternteils oder der Entscheidung des Gerichts oder der Kindesschutzbehörde, wenn:
a. der neue Aufenthaltsort im Ausland liegt; oder
b. der Wechsel des Aufenthaltsortes erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den andern Elternteil hat.
3 Übt ein Elternteil die elterliche Sorge allein aus und will er den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so muss er den anderen Elternteil rechtzeitig darüber informieren.
4/5 (…)

3. Beispiel: Rückkehr aus Spanien

Ein Schweizer Ehepaar beschloss, mit seinen beiden minderjährigen Kindern nach Südspanien auszuwandern. Der Ehemann nahm eine Arbeitsstelle an und seine Frau kümmerte sich einzig um den Haushalt und die Kinder. Leider erwies sich Spanien nicht als Paradies und die Eheleute lebten sich auseinander. Nachdem der Ehemann fremd gegangen war, beschloss die Ehefrau, sich von ihrem Mann zu trennen. Da sie für sich keine Zukunftsperspektive in Spanien sah, entschloss sie sich, in die Schweiz zurückzukehren. Dies besprach sie mit ihrer 12-jährigen Tochter und ihrem 14-jährigen Sohn. Beide entschieden sich, mit der Mutter in die Schweiz zurückzukehren. Ohne ihren Entschluss dem Ehemann mitzuteilen, reiste die Ehefrau mit den Kindern in die Schweiz zurück, als dieser bei der Arbeit war. Nach Ankunft in der Schweiz stellte die Ehefrau beim zuständigen Bezirksgericht ein Eheschutzbegehren. Der Ehemann stellte beim Bundesamt für Justiz in Bern ein Begehren um Rückführung der Kinder nach Spanien.

4. Eheschutzverfahren contra Rückführung?

Das Eheschutzverfahren (Art. 175 ff. ZGB) dient dazu, die Folgen der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts zu regeln, namentlich in Bezug auf Unterhalt, Benützung der Familienwohnung und Kinderbelange.

Bei internationalen Sachverhalten ist zunächst zu klären, welches Gericht international zuständig und welches Recht anwendbar ist. Diese Fragen regelt das Bundesgesetz über das internationale Privatrecht (IPRG) (SR 291). Allerdings gehen staatsvertragliche Regelungen dem IPRG vor (Art. 1 Abs. 2 IPRG).

Die schweizerischen Gerichte am neuen Wohnort der Ehefrau sind grundsätzlich für das Eheschutzverfahren zuständig (Art. 46 IPRG). Da die Ehegatten ihren Wohnsitz in unterschiedlichen Staaten haben, ist das Recht mit dem engeren Sachzusammenhang anwendbar (Art. 48 Abs. 2 IPRG). Es ist somit keineswegs sicher, dass das Schweizer Gericht auch schweizerisches Recht (ZGB) anwendet. Da der letzte gemeinsame Wohnsitz der Eheleute in Spanien gewesen ist, ist wohl eher spanisches Eherecht anwendbar. Welches Recht schliesslich anwendbar ist, muss in Anbetracht der Umstände des Einzelfalles entschieden werden.

Die internationale Zuständigkeit des Eheschutzgerichts für Kinderbelange muss gesondert geprüft werden. Gemäss Art. 85 Abs. 1 IPRG ist das Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern (Haager Kindesschutzübereinkommen, HKsÜ) (SR 0.211.231.011) anwendbar. Grundsätzlich sind die Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder (Schweiz) zuständig (Art. 5 HKsÜ). Dies gilt jedoch nicht, wenn die Kinder widerrechtlich an den neuen Aufenthaltsort gebracht worden sind. Gemäss Art. 7 HKsÜ bleiben die Behörden zuständig, wo sich die Kinder unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort gehabt haben, somit Spanien. Demnach ist das schweizerische Eheschutzgericht grundsätzlich nicht zuständig, um über Obhut und Betreuung zu entscheiden. Das Eheschutzgericht ist einzig für dringende Kindesschutzmassnahmen zuständig (Art. 11 HKsÜ).

Ausserdem darf gemäss Art. 16 des Haager Kindesentführungsübereinkommen der schweizerische Richter keine Sachentscheide betreffend die elterliche Sorge bzw. die Obhut treffen, solange nicht entschieden ist, ob die Kinder zurückgeführt werden müssen.

Die Ehefrau hat somit in einem Eheschutzverfahren schlechte Karten, da das Eheschutzgericht in Bezug auf Obhut und Betreuung nicht auf das Eheschutzbegehren eintreten kann. Mit dem Stellen eines Eheschutzbegehrens kann auch nicht verhindert werden, dass der Ehemann im Rückführungsverfahren die Rückführung der Kinder nach Spanien durchsetzen kann. Folglich ist anzustreben, dass der Ehemann auf Anstrengungen für eine Rückführung der Kinder nach Spanien verzichtet, zumal sich die Kinder bereits für die Schweiz entschieden haben. Da sich dann die Kinder rechtmässig in der Schweiz aufhalten (vgl. Art. 13 Abs. 1 Bst. a HKÜ), ist das schweizerische Eheschutzgericht zuständig, um über Obhut und Besuchsrecht zu entscheiden (Art. 5 Abs. 1 HKsÜ). Das Eheschutzgericht könnte dann theoretisch sogar entscheiden, dass die Kinder in die Obhut des Vaters nach Spanien zu geben sind. Sollte der Ehemann jedoch auf eine Rückführung der Kinder nach Spanien beharren, weil er erwartet, dass er in Spanien seine Interessen besser durchsetzen kann, muss das Rückführungsverfahren durchgeführt werden.

5. Das Rückführungsverfahren

Das Haager Kindesentführungsübereinkommen wurde in der Schweiz durch das Bundesgesetz über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen (BG-KKE) vom 21. Dezember 2007 (SR 211.222.32) konkretisiert.

Der Kindsvater kann bei der zentralen Behörde (Art. 6 und 7 HKÜ) in Spanien oder in der Schweiz einen Antrag auf Rückführung der Kinder (Art. 8 HKÜ) stellen. In der Schweiz ist das Bundesamt für Justiz die zentrale Behörde (Art. 1 BG-KKE).

Das Bundesamt ordnet zunächst ein Vermittlungsverfahren bzw. eine Mediation an, mit dem Ziel, die freiwillige Rückführung der Kinder zu erreichen oder eine gütliche Regelung der Angelegenheit herbeizuführen (Art. 4 BG-KKE). Häufig wird die Schweizerische Stiftung des Internationalen Sozialdienstes (SSI) mit dieser Aufgabe betraut.

Wenn die Vermittlung scheitert, muss in einem gerichtlichen Verfahren über die Rückführung entschieden werden (Art. 8 BG-KKE). Zuständig ist das oberste Gericht des Kantons (Art. 7 Abs. 1 BG-KKE), also das Obergericht.

Das Gericht führt ein Vermittlungsverfahren oder eine Mediation durch, falls dies das Bundesamt nicht bereits veranlasst hat (Art. 8 Abs. 1 BG-KKE). Das Gericht muss keine Mediation durchführen, wenn eine Vermittlung durch einen Elternteil abgelehnt wird.

BGE vom 21.8.2014 (5A_577/2014 und 5A_578/2014):

2. (…) Art. 8 Abs. 1 BG-KKE verlangt, dass die kantonale Instanz entweder ein Vermittlungsverfahren oder eine Mediation durchführt. Das Obergericht hat ein Vermittlungsverfahren durchgeführt und damit die formellen Anforderungen erfüllt. Im Übrigen hat es die Parteien hinsichtlich der Bereitschaft zu einer Mediation angefragt, alsdann aber wegen fehlenden Konsenses der Parteien von der Anordnung einer solchen abgesehen. Dies steht mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Einklang, dass die Mediation, welche ein lösungsorientiertes Mitwirken der Parteien zum Gegenstand hat, beidseits eine minimale Bereitschaft zur Konfliktbewältigung erheischt (Urteile 5A_154/2010 vom 29. April 2010 E. 3; 5A_535/2010 vom 10. Oktober 2010 E. 3).

Ansonsten entscheidet das Gericht in einem summarischen Verfahren (Art. 8 Abs. 2 BG-KKE i.V.m. Art. 248 ff. ZPO). Es gilt das Beschleunigungsgebot (Art. 11 HKÜ). Das Bundesgericht führte in BGE 137 III 529 Folgendes aus:

2.2 (…)
Im Zusammenhang mit der vom Vater erwähnten 6-Wochen-Frist gemäss Art. 11 Abs. 2 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindsentführung (HKÜ; SR 0.211.230.02) wird allerdings deutlich, dass dem von ihm angerufenen Beschleunigungsgebot bei Kindesrückführungen eine besondere Bedeutung zukommt. Zwar zeigt sich in der Praxis, dass die 6-Wochen-Frist im erstinstanzlichen Verfahren oft schwer einzuhalten ist, namentlich vor dem Hintergrund der Gehörsgewährung, und gemäss Konventionswortlaut kommt ihr denn auch explizit nur Richtliniencharakter zu. Indes ergibt sich aus dieser sowie aus den weiteren auf ein rasches Handeln zielenden Normen (Art. 1 lit a HKÜ: sofortige Rückgabe; Art. 2 HKÜ: schnellstmögliche Verfahren; Art. 11 Abs. 1 HKÜ: gebotene Eile), dass die notwendigen Instruktionsmassnahmen mit Vorteil in einer umgehend erlassenen Instruktionsverfügung zu kondensieren sind (nach Möglichkeit bereits verbunden mit der Ansetzung einer Vermittlungsverhandlung oder einer Schlussverhandlung für den Fall des Scheiterns einer Mediation, soweit eine solche Verhandlung angebracht erscheint) und insbesondere eine gestützt auf Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 21. Dezember 2007 über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen (BG-KKE; SR 211.222.32) gegebenenfalls angeordnete Mediation nicht quasi ausserhalb der vom HKÜ vorgegebenen Richtlinienfrist stattfinden kann, ist sie doch Teil des erstinstanzlichen Rückführungsverfahrens. Auch bei Anordnung einer solchen ist mithin auf äusserste Speditivität zu achten und das Verfahren strikt in richterlicher Hand zu behalten. Eine allfällige Mediation ist deshalb in strukturierter Weise und, wie sich bereits aus der Botschaft zum BG-KKE ergibt (BBl 2007 2625 Ziff. 6.7), geknüpft an richterlich vorgegebene Fristen anzuordnen (beispielsweise drei Sitzungen innerhalb einer Woche oder Sitzungen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden und begründete Benachrichtigung des Rückführungsgerichtes bzw. begründetes Ersuchen um Fristverlängerung, falls noch kein Resultat erzielt worden, aber ein solches in absehbarer Zeit zu erwarten ist und die Mediation deshalb weitergeführt werden sollte). Ferner ist zu beachten, dass sich der Zweck einer Mediation darauf beschränkt, die freiwillige Rückführung des Kindes zu erreichen oder eine gütliche Regelung der Angelegenheit herbeizuführen (Art. 8 Abs. 1 BG-KKE), sie aber insbesondere nicht der Abklärung von irgendwelchen Sachverhaltselementen dient. (…)

Das Gericht hört die Parteien so weit als möglich persönlich an (Art. 9 Abs. 1 BG-KKE). Das Kind wird, soweit nicht das Alter des Kindes oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen, vom Gericht in geeigneter Weise persönlich an oder durch eine beauftragte Fachperson befragt (Art. 9 Abs. 2 BG-KKE). Kinder sind in der Regel ab dem 11. oder 12. Altersjahr persönlich anzuhören (BGE 133 III 146 E. 2.6).

2.6 Das Bundesgericht hat im erwähnten BGE 131 III 553 betont, dass die Anhörung im Zusammenhang mit Obhuts- und Sorgerechtsfragen keine Urteilsfähigkeit des Kindes im Sinn von Art. 16 ZGB voraussetzt, da es bei kleineren Kindern in erster Linie darum geht, dass sich das urteilende Gericht ein persönliches Bild machen kann und über eine zusätzliche Erkenntnisquelle bei der Sachverhaltsfeststellung und Entscheidfindung verfügt. Bei ihnen ist deshalb auch nicht nach konkreten Zuteilungswünschen zu fragen, da sie sich hierüber noch gar nicht losgelöst von zufälligen gegenwärtigen Einflussfaktoren äussern und in diesem Sinn eine stabile Absichtserklärung abgeben können (E. 1.2.2 S. 557 m.H. auf die weiterführende Literatur).

Zum einen dürfen im Rückführungsentscheid diejenigen Faktoren, zu deren Erstellung die Aussagen kleinerer Kinder sehr gut beitragen können (aktuelle Situation, persönliche Beziehung zu den Elternteilen etc.), gerade nicht berücksichtigt werden. Zum anderen sind kleinere Kinder mit Bezug auf das Thema des Rückführungsprozesses noch gar nicht urteilsfähig. Die Befragung bei der Anhörung lässt sich aber nicht vom Gegenstand trennen, der im betreffenden Verfahren zu beurteilen ist. Es würde keinen Sinn machen, kleinere Kinder, welche die besondere Problematik des Rückführungsentscheides noch nicht erfassen können, bloss zu ihrer Situation im Allgemeinen anzuhören, wenn das Haager Übereinkommen zwingend vorgibt, dass diese (mit Ausnahme des Einlebens gemäss Art. 12 Abs. 2 HEntfÜ) im Rückführungsentscheid keine Rolle spielen kann.

Mit Blick auf die Willensbildung im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ darf sodann nicht übersehen werden, dass in fast allen Entführungsfällen namentlich kleinere Kinder mit dem Entführer notwendigerweise eine Schicksalsgemeinschaft bilden und sie deshalb mit einer zwingenden Anhörung oftmals in eine unzumutbare Lage gebracht würden. Anders als die im Rahmen von Art. 144 und 314 ZGB anzuhörenden Kinder halten sie sich nicht in einer ihnen vertrauten Umgebung auf, sprechen sie oft eine andere Sprache und verfügen sie aufgrund der Entführungssituation nicht über eine Vielzahl von Bezugspersonen (Elternteile, Verwandte, Kameraden etc.). Im Unterschied zu anderen Kindern dürften sie aufgrund der sich aus der Entführungssituation ergebenden Isolation in der Regel weniger einem Loyalitätskonflikt zwischen den beiden Elternteilen ausgesetzt sein, als vielmehr unter starkem Druck und entscheidendem Einfluss des entführenden Elternteils stehen. In diesem Sinn hat das Bundesgericht im bereits mehrfach erwähnten BGE 131 III 334 denn auch festgehalten, dass beim anzuhörenden Kind geprüft werden muss, ob es sich einer Rückführung aus freien Stücken widersetzt, und dass in diesem Sinn der beachtliche Kindeswillen vom manipulierten und deshalb unbeachtlichen abzugrenzen ist (E. 5.1 S. 339 f. mit weiteren Hinweisen).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht angebracht, im Rückführungsverfahren kleinere Kinder systematisch anzuhören. Namentlich die Unterscheidung zwischen der Wiederherstellung des aufenthaltsrechtlichen status quo ante und dem Sorgerecht bzw. der Obhut, aber auch das Bewusstsein, dass über Letzteres nach der Konzeption des Übereinkommens der Richter im Herkunftsstaat zu entscheiden hat und die Frage, bei wem das Kind künftig leben soll, erst in jenem Verfahren thematisiert werden kann, ist relativ abstrakt, und entsprechende Denkoperationen sind einem Kind nach der zitierten kinderpsychologischen Literatur vor elf bis zwölf Jahren in aller Regel nicht möglich.

Zudem werden die Kinder durch einen Prozessbeistand vertreten (Art. 9 Abs. 3 BG-KKE).

Der Entscheid über die Rückführung wird mit Vollstreckungsmassnahmen verbunden (Art. 11 BG-KKE). Für die Vollstreckung ist eine einzige kantonale Behörde zuständig (Art. 12 Abs. 1 BG-KKE). Im Kanton Zürich ist das Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) für die Vollstreckung zuständig. Die Behörde berücksichtigt bei der Vollstreckung das Kindeswohl und wirkt auf einen freiwilligen Vollzug hin (Art. 12 Abs. 2 BG-KKE).

Gegen den Entscheid des Obergerichts ist die Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht möglich (BGE 133 III 584).

Das Rückführungsverfahren ist schliesslich kostenlos (Art. 26 HKÜ, Art. 14 BG-KKE).

6. Rückführung und Kindeswohl

In Kindesentführungsfällen wird regelmässig geltend gemacht, dass die Rückführung dem Kindeswohl widerspreche. Diesbezüglich muss klargestellt werden, dass es das primäre Ziel des Haager Kindesentführungsübereinkommen ist, dass widerrechtlich in ein anderes Land verbrachte oder dort zurückbehaltene Kinder sofort in das Land, wo sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt haben, zurückgebracht werden (status ante quo) (Art. 1 Bst. a HKÜ). Das Gericht entscheidet somit nur über die Rückführung, nicht aber, wer die elterliche Sorge bzw. wer das Aufenthaltsbestimmungsrecht bekommen solle. Es geht einzig darum zu verhindern, dass ein Elternteil durch Verbringen der Kinder in ein anderes Land sich einen rechtlichen Vorteil verschafft („forum shopping“). Das Kindeswohl hat somit beim Entscheid über die Rückführung nur eine untergeordnete Bedeutung. Im Übrigen dürfte in den meisten Fällen die Berufung des entführenden Elternteils auf das Kindeswohl rechtsmissbräuchlich sein, denn gerade die Verbringung der Kinder in ein anderes Land und die anschliessende Rechtsunsicherheit sind für das Kindeswohl wesentlich schädlicher.

Das Haager Kindesentführungsübereinkommen sieht gewisse Fälle vor, bei denen auf eine Rückführung der Kinder verzichtet wird.

Art. 13 HKÜ
Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
a) dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat, oder
b) dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.
Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.

In Bezug auf die Zustimmung nach Art. 13 Abs. 1 Bst. a HKÜ führte das Bundesgericht Folgendes aus (BGE vom 10.8.2010, E. 6, 5A_535/2010):

5. (…) Davon ausgehend ist dieses zum zutreffenden rechtlichen Schluss gelangt, dass der Verweigerungsgrund von Art. 13 Abs. 1 lit. a HKÜ nicht nachgewiesen sei: An das Beweismass sind hohe Anforderungen zu stellen; nur eine klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebrachte, sich auf eine dauerhafte Aufenthaltsänderung gerichtete Willensäusserung kann als Zustimmung zum Verbringen der Kinder im Sinn von Art. 13 Abs. 1 lit. a HKÜ aufgefasst werden (Urteil 5P.199/2006 vom 13. Juli 2007 E. 4.3, mit Hinweisen auf die Literatur). Keine Zustimmung kann aus Äusserungen abgeleitet werden, welche im Zustand emotionaler Betroffenheit geäussert worden sind (Zürcher, Kindesentführung und Kindesrechte, Diss. Zürich 2005, S. 89). (…)

Der schweizerische Gesetzgeber konkretisierte Art. 13 Abs. 1 Bst. b HKÜ wie folgt:

Art. 5 BG-KKE
Rückführung und Kindeswohl
Die Rückführung bringt das Kind insbesondere dann in eine unzumutbare Lage nach Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe b HKÜ, wenn:
a. die Unterbringung bei dem das Gesuch stellenden Elternteil offensichtlich nicht dem Wohl des Kindes entspricht;
b. der entführende Elternteil unter Würdigung der gesamten Umstände nicht in der Lage ist oder es ihm offensichtlich nicht zugemutet werden kann, das Kind im Staat zu betreuen, in dem es unmittelbar vor der Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; und
c. die Unterbringung bei Drittpersonen offensichtlich nicht dem Wohl des Kindes entspricht.

Das Bundesgericht führte in einem Urteil diesbezüglich Folgendes aus (BGE vom 11.1.10, E. 4.1, 5A_764/2009, 5A_778/2009):

4. Die Mutter beruft sich zunächst auf den Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ.

4.1 Gemäss dieser Bestimmung kann die Rückführung des Kindes verweigert werden, wenn die Partei, die sich der Rückgabe widersetzt, nachweist, dass diese mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind in eine unzumutbare Lage bringt.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt eine schwerwiegende Gefahr körperlicher oder seelischer Schädigung zum Beispiel bei einer Rückführung in ein Kriegs- oder Seuchengebiet vor, aber auch, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Kind nach der Rückgabe misshandelt oder missbraucht wird und nicht zu erwarten ist, dass die zuständigen Behörden des Herkunftsstaates gegen die Gefährdung erfolgreich einschreiten (Urteile 5P.310/2002, E. 3.1; 5P.71/2003, E. 2.2; 5A_105/2009, E. 3.3).

Keine schwerwiegende Gefahr seelischer Schädigung begründen hingegen anfängliche Sprach- und Reintegrationsschwierigkeiten, wie sie sich bei Kindern ab einem gewissen Alter mehr oder weniger zwangsläufig ergeben (BGE 130 III 530 E. 3 S. 535). Sodann ist im Rückgabeverfahren von vornherein kein Platz für Überlegungen, bei welchem Elternteil oder in welchem Land das Kind besser aufgehoben oder welcher Elternteil zur Erziehung und Betreuung des Kindes besser geeignet wäre (BGE 131 III 334 E. 5.3 S. 341; 133 III 146 E. 2.4 S. 149); der Entscheid darüber ist nach dem System des HKÜ dem Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten (vgl. Art. 16 und 19).

Was die Trennung von Mutter und Kind im Speziellen anbelangt, gilt es zunächst zu beachten, dass sich das Kriterium der Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat auf das Kind selbst und nicht auf seine Eltern bezieht. Das heisst, dass es unter Umständen zu einer Trennung zwischen dem Kind und seiner Hauptbezugsperson kommen kann, was aber nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre für sich allein noch keinen Versagensgrund für die Rückführung bildet (BGE 130 III 530 E. 3 S. 535; SCHMID, Neuere Entwicklungen im Bereich der internationalen Kindesentführungen, in: AJP 2002, S. 1333; BACH/GILDENAST, Internationale Kindesentführung, Bielefeld 1999, Rz. 131; KUHN, Ihr Kinderlein bleibet, so bleibet doch all, in: AJP 1997, S. 1099). Anders verhält es sich allerdings bei Säuglingen; hier bringt eine Trennung von der Mutter das Kind in jedem Fall in eine unzumutbare Lage (BUCHER, L’enfant en droit international privé, Basel 2003, Rz. 471; RASELLI/HAUSAMMANN/MÖCKLI/URWYLER, a.a.O., N. 16.164). Entsprechend hat das Bundesgericht in einem jüngsten Entscheid bei einem noch nicht einmal zweijährigen Kind, das bislang ausschliesslich von der Mutter betreut worden war, die Rückführung davon abhängig gemacht, dass die Mutter mitreisen und am Sorgerechtsverfahren im Herkunftsstaat teilnehmen kann (vgl. Urteil 5A_105/2009, E. 3.4 ff.).

Zu Art. 13 Abs. 2 KHÜ (Widersetzen des Kindes) führte das Bundesgericht Folgendes aus (BGE 134 III 88):

Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ; Widersetzen des Kindes.
Das Widersetzen muss mit nachvollziehbaren Gründen unterlegt und nachdrücklich sein (E. 4).

4. Es bleibt die Prüfung von Ausschlussgründen, die im Übereinkommen vorgesehen sind. Die Beschwerdeführerin beruft sich diesbezüglich auf Art. 13 Abs. 2 des Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ; SR 0.211.230.02), wonach von einer Rückführung abgesehen werden kann, wenn sich die Kinder der Rückgabe widersetzen und sie ein Alter und eine Reife erreicht haben, angesichts deren es angebracht erscheint, ihre Meinung zu berücksichtigen.

Das Kantonsgericht hat diesbezüglich erwogen, B. sei erst acht Jahre alt und im Übrigen sei es ihm egal, ob er in der Schweiz oder in Frankreich lebe, solange er mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammenbleiben könne. A. sei bereits 14-jährig und verfüge entsprechend über die nötige Reife für eine eigene Meinungsbildung. Gemäss dem von ihrer Anhörung erstellten Protokoll fühle sie sich am neuen Ort wohl, gehe es ihr in der Schweiz gut und wolle sie lieber bei der Mutter wohnen; demgegenüber seien keine ernsthaften und nachvollziehbaren Gründe oder sonstigen Willensäusserungen zum Ausdruck gebracht worden, woraus sich eine Aversion gegen Frankreich und ein eigentliches Widersetzen gegen die Rückführung ableiten liesse.

Die Beschwerdeführerin macht geltend, diese Feststellungen seien falsch, da sie diametral den Schlussfolgerungen der ersten Instanz entgegenstünden, die auch die Anhörung durchgeführt habe. Aufgrund der Begebenheiten hätte das Kantonsgericht zum Schluss kommen müssen, dass zumindest A. sich der Rückkehr widersetze und damit der Verweigerungsgrund von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ gegeben sei.

Die Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Entscheid sind für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht kann jedoch den Sachverhalt von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist (Art. 105 Abs. 2 BGG); die Beschwerdeführerin erhebt auch eine dahingehende Sachverhaltsrüge (Art. 97 Abs. 1 BGG). Eigentlich würde hierfür das strikte Rügeprinzip im Sinn von Art. 106 Abs. 2 BGG gelten (BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 254 f.). Nun ist im vorliegenden Fall zu beachten, dass das Aussageprotokoll den Parteien auf ausdrücklichen Wunsch von A. nicht zugestellt worden ist, weshalb es der Beschwerdeführerin gar nicht möglich war, anhand der betreffenden Aktenstelle eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung durch das Kantonsgericht aufzuzeigen. Dazu kommt, dass für den erstinstanzlichen Entscheid keine schriftliche Begründung vorliegt, weshalb das Kantonsgericht den Sachverhalt aufgrund des Aussageprotokolls selbst zu erstellen hatte. Aus diesem Grund drängt es sich auf, gestützt auf Art. 105 Abs. 2 BGG ausnahmsweise von Amtes wegen zu prüfen, ob eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung gegeben ist. Von vornherein gegenstandslos ist demgegenüber der Verweis auf angebliche Schlussfolgerungen des erstinstanzlichen Gerichts, liegt doch für dessen Entscheid keine Begründung vor und gibt es entsprechend keine Akten, welche das Kantonsgericht unrichtig hätte würdigen können.

Im Zusammenhang mit der Sachverhaltsbasis stellt sich vorweg die Frage, ob die Sache nicht zur erneuten Anhörung von A. an das Kantonsgericht zurückzuweisen wäre, nachdem dieses die Art der Durchführung und der Protokollierung durch die erste Instanz kritisiert hatte. Indes ist das Protokoll relativ ausführlich und gibt die Motive von A., weshalb sie lieber in der Schweiz bleiben würde, gut und nachvollziehbar wieder. Es ist nicht ersichtlich, was bei einer erneuten Anhörung im jetzigen Verfahrensstadium an zusätzlichen Erkenntnissen zu gewinnen wäre, zumal eine inquisitorische Befragung bei der Kindesanhörung nicht am Platz ist und diese im Grundsatz nur dann wiederholt durchgeführt werden sollte, wenn es unumgänglich erscheint (BGE 133 III 553 E. 4 S. 554 f.). Die dahingehende Gehörsrüge der Beschwerdeführerin ist jedenfalls unbegründet, umso mehr als sie vor Kantonsgericht keine erneute Anhörung verlangt, sondern vielmehr sinngemäss ausgeführt hatte, die erstinstanzliche Anhörung sei korrekt erfolgt und damit müsse es sein Bewenden haben.

Aus dem Anhörungsprotokoll ergibt sich, dass es A. in T. gut gefällt und sie ausser in Deutsch und Geschichte auch mit ihren schulischen Leistungen zufrieden ist. Sie habe schnell Freunde in T. gefunden, habe aber auch noch Kontakt zu ihren Freundinnen in Frankreich. Im Übrigen äussert sie sich eingehend zum Verhältnis bzw. den Kontakten mit dem Vater, der ihr zum Vorwurf macht, dass sie nicht bei ihm wohnen will, und mit dessen neuer Frau sie auch nicht so gut zurecht kommt. In Frankreich könnte sie nicht in ihre alte Schule zurück, sondern müsste eine neue Schule besuchen, wo sie wiederum niemanden kennen würde.

Was die Aussagen zur Beziehung mit dem Vater anbelangt, ist festzuhalten, dass es im Rückführungsverfahren gerade nicht um Obhuts- und schon gar nicht um Sorgerechtsfragen, sondern einzig darum geht, den aufenthaltsrechtlichen status quo ante wiederherzustellen; mit anderen Worten steht nicht eine Platzierung beim Vater, sondern die Rückkehr nach Frankreich als solche zur Diskussion. Dass A. diese Rückkehr grundsätzlich verweigern würde, lässt sich den protokollierten Aussagen nicht entnehmen und entsprechend liegt entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin auch keine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung durch das Kantonsgericht vor. Vielmehr spricht A. von Problemen, die in der Natur einer jeden Rückführung liegen, so etwa, dass es (jedenfalls bei Ausschöpfung der Rechtsmittelwege) infolge Zeitablaufes regelmässig nicht mehr möglich ist, in der angestammten Schulklasse weiterzufahren. Dass A. angesichts solcher Unannehmlichkeiten lieber in der Schweiz bleiben würde, wo sie inzwischen auch viele neue Freunde gefunden hat, ist nichts als normal und stellt für sich genommen noch kein „Widersetzen“ im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ dar. Dieses muss vielmehr qualifizierter Natur, d.h. mit nachvollziehbaren speziellen Gründen unterlegt sein und überdies mit einem gewissen Nachdruck vertreten werden, weil die betreffende Norm dem Kind kein freies Wahlrecht einräumt, mit welchem es gewissermassen über den Aufenthaltsort der Familie entscheiden könnte, sondern es sich dabei um einen Ausnahmetatbestand vom Grundsatz handelt, wonach widerrechtlich verbrachte Kinder bei entsprechendem Gesuch des anderen Elternteils in den Herkunftsstaat zurückzuführen sind. Dass sodann der achtjährige B. mit Bezug auf die relevante Fragestellung von vornherein noch nicht zu autonomer Willensbildung fähig ist (BGE 133 III 146), stellt die Beschwerdeführerin nicht in Frage und sie behauptet auch keine Verweigerung der Rückkehr. Gemäss den protokollierten Aussagen kennt er denn auch den genauen Zusammenhang der Anhörung nicht und will er mit Mutter und Schwester zusammenbleiben, wobei es für ihn keine Rolle spielt, ob dies in Frankreich oder in der Schweiz ist.

Im Übrigen kann die Rückführung verweigert werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist (Art. 20 HKÜ). Das bezeichnet man auch als „Ordre public“ (Art. 17 IPRG).

Schliesslich erfolgt auch keine Rückführung mehr, wenn das Kind das 16. Altersjahr erreicht hat (Art. 4 HKÜ).

7. Der Fall „Neulinger/Shuruk“

Meines Erachtens hat die Berufung auf das Kindeswohl keine grossen Erfolgsaussichten. In praktisch sämtlichen Fällen wurde die Rückführung der Kinder bejaht. Eine Ausnahme bildet der Fall „Neulinger/Shuruk“.

Isabelle Neulinger zog 1999 nach Israel und heiratete 2001 Shai Shuruk. 2003 wurde der gemeinsame Sohn Noam Shuruk geboren. Weil ihr Ehemann sich einer ultra-orthodoxen Gemeinschaft angeschlossen hatte, kam es zu Eheproblemen. Nachdem Frau Neulinger befürchtete, dass ihr Mann mit dem Sohn in eine ausländische Station dieser orthodoxen Gemeinschaft ziehen könnte, mit dem Ziel der religiösen Indoktrination des Sohnes, wandte sie sich 2004 an ein Familiengericht in Tel Aviv. Dieses erliess die Weisung, dass der Sohn bis zum Erreichen der Volljährigkeit Israel nicht verlassen dürfe. Zudem stellte dieses Gericht später Noam in die Obhut der Mutter, unter Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge. Wegen des bedrohenden Verhaltens des Ehemannes wurde ein begleitetes Besuchsrecht angeordnet.

Am 10. Februar 2005 erfolgte die Scheidung. Die gemeinsame elterliche Sorge bestand auch weiterhin. Am 27. März 2005 lehnte es das Familiengericht ab, das Ausreiseverbot aufzuheben. Am 24. Juni 2005 verliess Frau Neulinger mit ihrem Sohn eigenmächtig und in Missachtung des gerichtlichen Verbots Israel und kehrte in die Schweiz zurück.

In der Folge stellte der Kindsvater bei der israelischen Zentralbehörde ein Begehren um Rückführung seines Sohnes nach Israel. Zudem stellte er ein Rückführungsbegehren in der Schweiz. Für weitere, zum Teil sehr aufschlussreiche Details des Falles verweise ich auf das Urteil des EGMR vom 6. Juli 2010.

Es ergibt sich folgende Prozessgeschichte:

29.06.06 Friedensrichter keine Rückführung
22.05.07 Kantonsgericht keine Rückführung
16.08.07 Bundesgericht Rückführung
08.01.09 EGMR (Kammer) Rückführung
06.07.10 EGMR (Grosse Kammer) keine Rückführung

Während die schweizerischen Gerichte den Fall unter dem Blickwinkel des Ausnahmetatbestandes von Art. 13 Abs. 1 Bst. b HKÜ prüften, prüfte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, ob eine Verletzung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) vorliege. Im Ergebnis ging die Grosse Kammer des EGMR davon aus, dass eine Rückführung nach Israel eine gravierende Gefährdung des Kindeswohls bedeuten würde.

8. The Mexico Case

Der folgende Fall zeigt exemplarisch die Problematik auf. Das Bundesgericht beschäftigte sich insgesamt dreimal mit dem Mexiko-Fall, über den auch ausführlich in den Medien berichtet worden war:

– BGE vom 30.4.2015 (5A_229/2015),
– BGE vom 22.6.2015 (5A_429/2015),
– BGE vom 10.7.2015 (5A_539/2015).

Das Kind musste schliesslich zu seiner Mutter nach Mexiko rückgeführt werden.

Der Sachverhalt:

A. und B., beide Jahrgang 1975, sind die Eltern der am xx.xx.2005 als ihr eheliches Kind in Acapulco geborenen Tochter C. Beide Eltern haben seit Beginn ihrer Beziehung im März 2001 mit Ausnahme eines Jahres immer in Mexiko gelebt und dort auch ihren letzten gemeinsamen Wohnsitz gehabt. Im Zuge ihrer Ende Oktober 2013 erfolgten Trennung schlossen sie eine Vereinbarung, wonach ihnen die elterliche Sorge weiterhin gemeinsam zukommen, C. zukünftig bei der Mutter wohnen, dem Vater ein ausgedehntes Besuchsrecht zustehen und das Verlassen der Stadt oder des Landes mit dem Kind von der schriftlichen Zustimmung des anderen Elternteils abhängen soll. Im Juni 2014 reiste der Vater mit der Tochter im Einverständnis der Mutter für Ferien in die Schweiz. Er versprach der Mutter, das Kind am 16. September 2014 wieder zurück nach Mexiko zu bringen. Am 24. August 2014 teilte er ihr mit, er werde C. nicht mehr nach Mexiko reisen lassen.

Die Prozessgeschichte:

B. Das Obergericht des Kantons Aargau wies das Gesuch mit Entscheid vom 19. Februar 2015 ab. In dahingehender Gutheissung der Beschwerde der Mutter wies das Bundesgericht mit Urteil vom 30. April 2015 (Verfahren 5A_229/2015) die Sache mit der verbindlichen Vorgabe der Rückführung von C. zur weiteren Behandlung im Sinn der Erwägungen (konkrete Regelung der Rückführung) an das Obergericht zurück. Mit Entscheid vom 6. Mai 2015 ordnete dieses in Gutheissung des Rückführungsgesuchs die Rückführung von C. nach Mexiko an und regelte die konkreten Modalitäten der Rückführung. Die hiergegen erhobene Beschwerde des Vaters wies das Bundesgericht mit Urteil vom 22. Juni 2015 ab, soweit es darauf eintrat (Verfahren 5A_429/2015).

C. Am 21. Mai 2015 reichte der Vater vor Obergericht ein Abänderungsgesuch ein, mit welchem er verlangte, der Entscheid vom 6. Mai 2015 sei in Wiedererwägung zu ziehen, auf den Vollzug der Rückführung sei zu verzichten und es sei eine Begutachtung von C. zur Klärung der Frage einer schweren psychologischen Schädigung bei einer Rückführung nach Mexiko sowie zur Reisefähigkeit anzuordnen.

Zwischenzeitlich war C. durch die Grossmutter väterlicherseits (Mutter des Vaters) nach Frankreich entführt worden, wo sie von der Polizei am 22. Mai 2015 aufgegriffen und am 23. Mai 2015 in die Schweiz zurückgebracht wurde.

Mit Verfügung vom 22. Mai 2015 sistierte das Obergericht das Rückführungsverfahren mit Blick auf eine fachärztliche Begutachtung des Kindes durch Dr. med. E., … Klinik F. Sodann regelte es mit Verfügung vom 23. Mai 2015 die Unterbringung zwecks Begutachtung sowie die Besuchs- und Kontaktrechte; weiter gab es den Parteien Gelegenheit, Einwände gegen den Gutachter zu erheben und Gutachterfragen zu formulieren. Mit Verfügung vom 29. Mai 2015 bestätigte das Obergericht die vorläufige Sistierung des Rückführungsverfahrens, die angeordnete Begutachtung von C. durch Dr. med. E. sowie die Besuchs- und Kontaktrechte; sodann formulierte es die Gutachterfragen und belehrte den Sachverständigen.

Am 22. Juni 2015 erstattete Dr. med. E. das Gutachten betreffend die Reisefähigkeit von C. und eine mögliche physische oder psychische Schädigung durch die Rückführung. Den Parteien wurde zum Gutachten das rechtliche Gehör gewährt.

Am 26. und 27. Juni 2015 fand auf Initiative des Bundesamtes für Justiz erneut ein Mediationsversuch statt, welcher indes scheiterte.

Mit Entscheid vom 29. Juni 2015 wies das Obergericht das Gesuch um Abänderung des Rückführungsentscheides vom 6. Mai 2015 ab und hob die Sistierung des Rückführungsvollzugs auf.

D. Gegen den Entscheid vom 29. Juni 2015 hat der Vater am 8. Juli 2015 eine Beschwerde eingereicht mit den Begehren, in Änderung der Ziff. 1 und 3 dieses Entscheides sei der Rückführungsentscheid vom 6. Mai 2015 abzuändern und auf eine Rückführung zu verzichten, sei die mit Entscheid vom 29. Mai 2015 verfügte Kontaktbeschränkung aufzuheben, sei die Kantonspolizei Aargau anzuweisen, die angeordneten Eintragungen in den Fahndungssystemen zu löschen und seien die sich in den Akten befindenden Reisedokumente auszuhändigen. Sodann wird ein Antrag auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt; die Mutter ist durch den vorliegenden Entscheid nicht beschwert und der Kinderanwalt hätte gegen den angefochtenen Entscheid selbständig Beschwerde erheben können. Das Gutachten wurde durch das Obergericht des Kantons Aargau per Fax gesendet.

Kindsentführung und Rückführungspflicht:

Das Obergericht ist von einem widerrechtlichen Zurückhalten des Kindes im Sinn von Art. 3 lit. a HKÜ ausgegangen. Es hat befunden, gemäss mexikanischem Recht bleibe das gemeinsame Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht nach einer Trennung oder Scheidung der Eltern bestehen und überdies hätten die Eltern dies nach ihrer Trennung auch ausdrücklich so vereinbart. Gemäss Bestätigung der mexikanischen Zentralbehörde könne diesfalls der Inhaber der Obhut nach mexikanischem Recht nicht einseitig über einen Wohnsitzwechsel des Kindes entscheiden. Die Mutter habe lediglich für einen beschränkten Ferienaufenthalt ihre Zustimmung gegeben. Durch den einseitigen Entscheid des Vaters, C. nicht mehr nach Mexiko zurückzubringen, verletze er das Sorgerecht der Mutter. Grundsätzlich bestehe somit eine Rückführungspflicht.

Schwerwiegende Gefahr des Kindes als Ausschlussgrund:

Das Obergericht hat sodann den Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ (schwerwiegende Gefahr für das Kind) verneint. Es hat befunden, entgegen den Hinweisen des Vaters auf die Sicherheitslage in Mexiko bestehe keine konkrete Gefahr für das Kind, verschleppt oder ermordet zu werden. Der Verwandte der Mutter, auf welchen der Vater verweise, sei gemäss Aussagen der Mutter ein Onkel gewesen, welcher vor 20 Jahren umgekommen sei, weil er sich entgegen den Warnungen in einem Risikoquartier aufgehalten habe. Sodann habe die Mutter zur Aussage des Vaters, er habe immer wieder eine Pistole tragen müssen, festgehalten, dass dies gewesen sei, als die Familie noch in Acapulco gelebt habe. Weiter habe die Mutter bestritten, selbst in eine Schiesserei verwickelt gewesen zu sein. Ferner habe sie ausgesagt, nie angebliche Drohungen gegen die Familie wahrgenommen zu haben. Nach ihrer Darstellung habe der Vater sie erst kurz vor der Abreise informiert, dass er angeblich Drohanrufe erhalten und ein geköpftes Huhn vor seiner Türe gelegen habe; sie vermute, dass dies im Hinblick auf die Legitimation der Ausreise erfunden worden sei. Das Obergericht hat erwogen, dass insgesamt keine konkreten Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit der Rückführung bestünden und C. anlässlich der Anhörung auch nicht geschildert habe, dass sie je mit einer Bedrohung konfrontiert worden wäre. Es bestünden keine Beweise, dass C. konkret gefährdet wäre und eine Unterbringung bei der Mutter offensichtlich nicht dem Kindeswohl entspräche. Immerhin habe sie ihr bisheriges Leben glücklich und zufrieden in Mexiko verbracht. Dort sei es für die Bevölkerung nicht ungewohnt, sich nicht so frei wie in der Schweiz bewegen zu können und mit Schutz- und Sicherheitsmassnahmen zu leben (Sicherheitsschleusen, Begleitung der Kinder in die Schule, etc.). Sodann könne davon ausgegangen werden, dass sich C. in ihrem bis vor wenigen Monaten gelebten sozialen Umfeld rasch wieder zurecht finde. Die Mutter sei fürsorglich und könne C. eine kindgerechte Umgebung bieten. Sie könne die nahe gelegene Schule besuchen, mexikanische Freunde treffen und in ihrer Freizeit wieder schwimmen oder tauchen.

6. Gemäss Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ist der ersuchte Staat nicht zur Rückgabe des Kindes verpflichtet, wenn die sich der Rückgabe widersetzende Person oder Behörde nachweist, dass dies mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ).

6.1. Nach allgemeiner Rechtsprechung ist der Ausschlussgrund der schwerwiegenden Gefahr restriktiv auszulegen (Urteil 5A_913/2010 vom 4. Februar 2011 E. 5.2; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Grosse Kammer, Entscheid Nr. 27853/09 vom 26. November 2013 Rz. 107; Bundesverfassungsgericht Deutschland, Entscheid BvR 1206/98 vom 29. Oktober 1998 Rz. 48; Oberster Gerichtshof Österreich, Entscheide 5Ob47/09m vom 12. Mai 2009 und 2Ob103/09z vom 16. Juli 2009). Eine schwerwiegende Gefahr liegt beispielsweise vor bei einer Rückführung in ein Kriegs- oder Seuchengebiet oder wenn zu befürchten ist, dass das Kind nach der Rückgabe misshandelt oder missbraucht wird, ohne dass die Behörden rechtzeitig einschreiten würden (Urteile 5A_913/2010 vom 4. Februar 2011 E. 5.1; 5A_674/2011 vom 31. Oktober 2011 E. 3.2; 5A_840/2011 vom 13. Januar 2012 E. 3.1).

6.2. Vorliegend kann ausgeschlossen werden, dass dem Kind aufgrund der Art der Unterbringung in irgendeiner Weise ein Schaden drohen würde. Noch als Familie sind die Eltern mit dem Kind aus Acapulco ‒ das anerkanntermassen als gefährlich gilt ‒ nach La Paz im Bundesstaat Baja California Sur umgezogen. Nach einem weiteren Umzug innerhalb von La Paz wohnt die Mutter inzwischen, wie sie anlässlich der gerichtlichen Anhörung ausgeführt hat und was vom Vater nicht bestritten worden ist, in einem Haus mit Hinterhof und Garten in einer Gegend, wo es viele Personen aus Nordamerika hat, was sich positiv auf die Umgebung auswirke. Die Schule sei in drei Gehminuten erreichbar und C. könnte zu Fuss dorthin gehen. Die Mutter hat eine Ausbildung in Sozialwissenschaften und doktoriert zur Zeit auf diesem Gebiet. Sie verdiene an der Universität umgerechnet rund Fr. 730.‒ bis 740.‒, was ausreiche; sie sei gut organisiert mit dem Geld, habe eine sehr tiefe Miete und ihre Mutter (Grossmutter von C.) unterstütze sie bei Bedarf zusätzlich. Bei beruflichen Abwesenheiten der Mutter würde wohl die Grossmutter, welche gerne zur Mutter nach La Paz ziehen würde, die Betreuung sicherstellen, wie sie dies schon vorher ‒ insbesondere auch nach der Darstellung des Vaters ‒ getan hat. Die Art der Unterbringung und Betreuung von C. in Mexiko dürfte sich mithin nicht allzu sehr von derjenigen in der Schweiz unterscheiden, wo der Vater nach seinen Aussagen anlässlich der gerichtlichen Anhörung von der Sozialhilfe und seiner schweizerischen Freundin lebt, wobei er mit dieser die Abmachung hat, dass er etwa Fr. 1’000.‒ durch Kinderhüten dazuverdient.

Im Übrigen hat C., wie sich aus zahlreichen Aktenstellen ergibt, ein gutes Verhältnis zu beiden Elternteilen. Sie hat auch ihre Mutter gern und pflegt mit ihr regelmässigen Skype-Kontakt. Gemäss dem Untersuchungsbericht von Dr. D. leidet sie unter einem starken Loyalitätskonflikt. Dieser ist für Kinder im Alter von C. insbesondere dann typisch, wenn sie zu beiden Elternteilen ein gutes Verhältnis haben und weiterhin haben wollen. C., welche momentan eine enge Schicksalsgemeinschaft mit ihrem Vater bildet und auch diesen nicht verlieren möchte, versucht den Loyalitätskonflikt dahingehend zu lösen, dass sie sich wünscht, die Mutter möge in die Schweiz kommen. Auf diese Weise könnte sie beide Elternteile in ihrem momentanen Umfeld integrieren. Dieser Wunsch scheitert insofern an der Realität, als die Elternteile in weit entfernten Ländern wohnen und heute nicht zur Diskussion steht, dass der eine oder andere Teil in absehbarer Zeit das Land wechselt. Die Fragestellung reduziert sich deshalb angesichts der gegebenen Rückführungsvoraussetzungen darauf, ob ein Ausschlussgrund vorliegt, indem für das Kind bei einer Rückführung zur Mutter eine schwerwiegende Gefahr im Sinn von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ droht. Eine solche ist unter dem Aspekt der Unterbringung und Schulung von C. in Mexiko nicht ersichtlich.

6.3. Weiter stellt sich die Frage, ob dem Kind unter Sicherheitsaspekten (Entführung oder gar Ermordung) eine Gefahr drohen könnte. Der Vater schilderte Mexiko im kantonalen Verfahren wiederholt als ein Land in einem desaströsen Zustand, in welchem geraubt, entführt und hingerichtet werde, Schutzgelder erpresst, Lösegelder gefordert und jährlich 100’000 Kinder entführt würden und überall Korruption herrsche (namentlich Stellungnahme vom 3. Februar 2015, S. 13).

Die allgemeine Sicherheitslage in Mexiko soll nicht banalisiert werden. Der Staat Mexiko kann aber auch nicht pauschal als Unrechtsstaat charakterisiert werden, in welchem gewissermassen an jeder Ecke der Tod lauert. Es ist allgemein bekannt, dass insbesondere Gebiete, in welchen sich Banden eigentliche Drogenkriege liefern, gefährlich sind, zumal auch Unbeteiligte in einen Schusswechsel geraten können. Ferner darf als notorisch gelten, dass Korruption in Mexiko weit verbreitet ist; diese stellt aber weniger eine konkrete Gefährdung für das Kind als vielmehr ein allgemeines Übel dar. Zentral für die Frage der konkreten Gefährdung ist die Sicherheitslage, welche in Mexiko stark abhängig ist von der Region und innerhalb einer Stadt auch vom Quartier. Dies geht nicht zuletzt aus den (aktenkundigen und im Übrigen auf Internet abrufbaren) Reisehinweisen des EDA und des deutschen Auswärtigen Amtes hervor. Es gibt touristisch frequentierte und relativ sichere Gegenden, aber auch solche, welche als bedenklich gelten. Während Touristen mangels spezifischer Kenntnisse leicht in unsichere Gegenden geraten können, ist die ortsansässige Bevölkerung zwangsläufig über Risikogebiete orientiert und weiss sich auch besser im Alltag vor Gefahren zu schützen.

Glaubhaft erscheint, dass von Unternehmen verschiedentlich Schutzgelder einkassiert werden, wie dies auch in Italien verbreitet ist, und dass der Vater im Zusammenhang mit dem Betrieb seines Geschäftes nicht davor gefeit war, wobei sich die entsprechende Aussage in der mündlichen Anhörung auf Acapulco bezieht. In Bezug auf La Paz hat der Vater von Drohanrufen berichtet und dass Leute diesbezüglich im Geschäft vorbeigekommen seien. Schutzgelder im Zusammenhang mit geschäftlicher Tätigkeit stellen aber keine unmittelbare Bedrohung für das Kind dar, zumal der Vater heute in der Schweiz lebt und keine Geschäfte mehr in Mexiko betreibt. Die Mutter arbeitet an der Universität und ist damit kein primäres Zielobjekt von Schutzgelderpressung. Im Übrigen ist auch nicht aktenkundig, dass sie über Vermögenswerte verfügen würde, so dass nicht ersichtlich ist, inwiefern für C. eine spezifische Entführungsgefahr drohen könnte.

Zur Sicherheitssituation im lokalen Umfeld, in welches C. zu leben käme, lässt sich Folgendes sagen: La Paz liegt im Bundesstaat Baja California Sur. Während sich in den Reisehinweisen des deutschen Auswärtigen Amtes keine Warnhinweise für die Baja California finden, wird in denjenigen des EDA auf Drogenkriege in den Bundesstaaten Baja California und Baja California Sur hingewiesen. Es ist aber zu beachten, dass sich die Halbinsel Baja California (Niederkalifornien) über mehr als 1000 km erstreckt. Sowohl das deutsche Auswärtige Amt als auch das EDA weisen darauf hin, dass die Kriminalität insbesondere in den nahe zur USA gelegenen Gebieten hoch ist; das EDA nennt spezifisch die Grenzstädte Tijuana und Ciudad Juárez. Dass dort die Situation prekär ist, darf als notorisch gelten. La Paz liegt aber weit im Süden der Halbinsel, über 1000 km von den USA entfernt. Für die Stadt selbst besteht weder seitens des EDA noch des deutschen Auswärtigen Amtes eine Reisewarnung. Die Aussagen der Mutter an der mündlichen Anhörung, wonach der Süden anders sei als der Norden [gemeint: der Halbinsel Baja California], decken sich mit den zugänglichen Informationen. Sodann wohnt die Mutter zwischenzeitlich in einem Quartier, in welchem viele Personen aus Nordamerika leben, was sich auch positiv auf die Umgebung auswirke; erwähnt hat die Mutter dabei insbesondere die grössere Sauberkeit. Es ist davon auszugehen – auch angesichts des Umstandes, dass viele Leute aus Nordamerika (die Mutter meint hiermit Leute aus den USA) im Quartier ihr Leben verbringen –, dass die Gegend für ein Kind mit einer mexikanischen Mutter nicht unzumutbar im Sinn von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ist.

Insgesamt ist entgegen der sinngemässen Darstellung des Vaters im kantonalen Verfahren nicht zu erwarten, dass Entführungsbanden gewissermassen auf die Rückführung von C. warten, um sie verschleppen zu können. Jedenfalls stehen seine dortigen Schilderungen in auffälligem Kontrast zur Tatsache, dass er während 14 Jahren in Mexiko gelebt, dort Geschäfte betrieben (Tauchschule und Ausflugsboot) und geheiratet hat, wobei er offenbar kein Problem darin sah, ein Kind zu zeugen, während all der Jahre mit Frau und Kind ein Familienleben in Mexiko zu führen (jahrelang sogar im als gefährlich geltenden Acapulco) und sich schliesslich mit der Familie in La Paz niederzulassen. Im Übrigen ist er offenbar auch nicht mit dem Entschluss in die Schweiz gereist, C. definitiv hier unterzubringen. Bei der Anhörung vor Obergericht gab er jedenfalls im Zusammenhang mit der Ausreise vom 27. Juni 2014 zu Protokoll, es „war die Idee, dass C. zwei bis drei Monate in der Schweiz bleibt. Was ich machen würde, war mir damals nicht so klar. Wir wohnten dann bei meiner Mutter, einem Kollegen und seit August sind wir definitiv in U. angemeldet.“ Der Entschluss, mit C. in der Schweiz zu bleiben, scheint erst im August 2014 gereift zu sein. Jedenfalls orientierte der Vater die Mutter am 24. August 2014 per E-Mail dahingehend, dass „der schweizerische Teil der Familie“ C. lieber länger in der Schweiz behalten möchte und es für ihre Zukunft das Beste wäre, wenn sie in der Schweiz bleiben würde. Vor diesem Hintergrund besteht, wie bereits erwähnt, ein auffälliger Widerspruch zwischen dem ursprünglichen Plan, dass C. die Sommerzeit in der Schweiz verbringen sollte, und den ab dem Zeitpunkt der Änderung dieses Plans väterlicherseits behaupteten untragbaren Sicherheitsrisiken für C. bei einer Rückkehr nach Mexiko.

In Anbetracht aller Umstände kann nicht auf eine konkrete physische Gefährdung von C. bei einer Rückführung zu ihrer Mutter geschlossen werden.

6.4. Schliesslich ist auf die in E. 5.3 angesprochene Frage einzugehen, ob C. bei einer Rückführung ein schwerwiegender psychischer Schaden drohen könnte. Davon ist ebenfalls nicht auszugehen. Sie wird von allen Seiten als kluges und lebendiges Kind dargestellt. Sie hat mit ihrer Mutter immer Spanisch gesprochen und wurde in Mexiko auf Englisch eingeschult. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie ‒ auch aufgrund ihrer guten schulischen Leistungen im ungewohnten schweizerischen Umfeld ‒ umso mehr in Mexiko rasch wieder schulischen Anschluss fände, sei dies auf Spanisch oder auf Englisch. Im Übrigen hat C. an keiner Stelle über negative Vorfälle in Mexiko berichtet, welche sie selbst in irgendeiner Weise erlebt hätte. Bei der gerichtlichen Anhörung hat sie von ihren mexikanischen wie auch von ihren schweizerischen Schulkameraden gesprochen. Zumal sie sich in der Schweiz, die für sie fremd war, schnell und gut zurecht gefunden hat, darf davon ausgegangen werden, dass dem ebenso der Fall wäre, wenn sie wieder in eine ihr bereits vertraute Gegend zurückkehren würde. Was schliesslich ihre ‒ aufgrund der väterlichen Schilderungen über Mexiko momentan zweifellos vorhandenen ‒ Ängste anbelangt, sind keine diesbezüglichen negativen Prädispositionen bekannt, so dass es dem natürlichen Lauf der Dinge widersprechen würde, wenn sich C. nach einigen Wochen des konkreten Lebensalltages in Mexiko und mit der Hilfe ihrer Mutter nicht wieder von diesen befreien könnte.

6.5. Insgesamt ergibt sich, dass keine schwerwiegenden Gefahren im Sinn von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ konkret drohen und für eine Betreuung durch die Mutter, für eine adäquate Unterbringung und für landesentsprechende schulische Möglichkeiten gesorgt ist.

Kindeswille als Ausschlussgrund:

Hingegen hat das Obergericht den Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ bejaht. Es hat ausgeführt, C. sei nun 9 1/3 Jahre alt und der Kindeswille könne deshalb nicht vollkommen ausgeblendet werden. Aus dem Anhörungsprotokoll ergebe sich, dass es ihr in der Schweiz gut gefalle und sie hier bereits Freunde gefunden habe. Auch wenn sie ihre Mutter vermisse, wolle sie nicht nach Mexiko zurückkehren, weil sie Angst habe, an einem Ort zu leben, wo ihre Eltern bedroht worden seien. Sie hätte viel lieber, wenn ihre Mutter in die Schweiz zöge, denn in Mexiko gebe es jeden Tag Schiessereien. C. wirke für ihr Alter aufgeweckt und aufgeschlossen. Sie scheine die momentane Situation und auch den Gegenstand des Verfahrens zu erfassen. Es stehe ausser Zweifel, dass sie sich einen festen Willen gebildet habe, auch wenn das Gericht überzeugt sei, dass dieser von aussen, insbesondere vom Vater als nächste Bezugsperson massiv beeinflusst worden sei. Der Wille scheine aber aufgrund der langen Dauer des widerrechtlichen Zurückhaltens bereits so verinnerlicht zu sein, dass es ihn zu respektieren gelte.

5. Zu prüfen ist sodann der Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ, welcher das Thema der Beschwerde bildet.

5.1. Gemäss Art. 13 Abs. 2 HKÜ kann von einer Rückführung abgesehen werden, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, die eine Berücksichtigung seiner Meinung als angebracht erscheinen lassen.

Das HKÜ legt kein bestimmtes Alter fest, ab wann ein Widersetzen des Kindes berücksichtigt werden kann. In der Lehre werden Mindestalter zwischen 10 und 14 Jahren postuliert (für Nachweise vgl. BGE 131 III 334 E. 5.2 S. 340; 133 III 146 E. 2.3 S. 148 f.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die erforderliche Reife im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HKÜ erreicht, wenn das Kind zu autonomer Willensbildung fähig ist, d.h. wenn es seine eigene Situation zu erkennen und trotz der äusseren Einflüsse eine eigene Meinung zu bilden vermag (BGE 131 III 334 E. 5.1 S. 340) und wenn es den Sinn und die Problematik des anstehenden Rückführungsentscheides verstehen kann; dies heisst, dass es insbesondere erkennen können muss, dass es nicht um die Sorgerechtsregelung, sondern vorerst nur um die Wiederherstellung des aufenthaltsrechtlichen Status quo ante geht und alsdann im Herkunftsstaat über die materiellen Fragen entschieden wird (BGE 133 III 146 E. 2.4 S. 149 f.). Gestützt auf die einschlägige kinderpsychologische Literatur geht die bundesgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass die erwähnten Voraussetzungen in der Regel ab ungefähr elf bis zwölf Jahren gegeben sind (BGE 133 III 146 E. 2.4 S. 150). Indes darf auch der aktenkundig geäusserte Wille eines etwas jüngeren Kindes nicht einfach ausgeblendet werden; vielmehr hat sich das Gericht damit auseinanderzusetzen (beispielsweise Urteil 5A_764/2009 vom 11. Januar 2010 E. 5.2 in Bezug auf ein Mädchen in ähnlichem Alter wie vorliegend).

In jedem Fall ist aber Voraussetzung, dass der geäusserte Kindeswillen, damit er die Basis für den eigenständigen Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ bilden kann, autonom gebildet worden ist. Selbstverständlich erfolgt eine jede Willensbildung nicht völlig losgelöst von äusserer Beeinflussung, schon gar nicht bei kleineren Kindern (so bereits BGE 131 III 334 E. 5.1 S. 340). Er darf aber nicht auf einer Manipulation oder Indoktrination beruhen, denn es lässt sich dort nicht mehr von einem dem Kind zurechenbaren autonomen Willen sprechen, wo es bloss die Ansicht seiner momentanen Bezugsperson transportiert. Vor diesem Hintergrund ist denn auch die Rechtsprechung zu verstehen, wonach das Widersetzen des Kindes im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HKÜ mit einem gewissen Nachdruck und mit nachvollziehbaren Gründen vertreten werden muss (vgl. dazu BGE 134 III 88 E. 4 S. 91, wo im Ergebnis die Rückführung von 8- und 14-jährigen Kindern nach Frankreich angeordnet worden ist; nicht beanstandet durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Nr. 3592/08 vom 22. Juli 2014).

5.2. Die Mutter hatte im kantonalen Verfahren vorgebracht, während der Skype-Kontakte stehe stets der Vater neben C. und überwache all ihre Aussagen, so dass sie ihre Meinung gar nie frei äussern könne. Indes hat C. ihren Wunsch, nicht nach Mexiko zurückzugehen, mehrmals kundgetan, als sie nachweislich nicht unter direkter Beobachtung des Vaters stand, nämlich bei der gerichtlichen Anhörung sowie gegenüber dem Kindesvertreter und dem Kinderarzt Dr. D., so dass die Äusserung ohne weiteres dem Kind selbst zugeschrieben werden kann. Das Obergericht ist allerdings davon ausgegangen, dass dieses nicht einen autonom gebildeten Willen geäussert, sondern die väterlichen Ansichten und Erzählungen verinnerlicht hat, und zwar so stark, dass ungeachtet der Fremdbestimmung auf die Äusserungen des Kindes abzustellen und dieses nicht zurückzuführen sei.

Auf die recht undifferenzierte Darstellung der Situation in Mexiko durch den Vater, in welchem Kontext die Äusserungen des Kindes zu sehen sind, wird in E. 6 noch im Einzelnen einzugehen sein. Was die vorliegend interessierende Frage der Willensbildung anbelangt, springt aufgrund des altersuntypischen Abstraktionsgrades, mit welchem C. ihre Ängste äussert, jedenfalls ins Auge, dass diese nicht auf selbst Erlebtem basieren, sondern auf den Schilderungen der allgemeinen Sicherheitslage in Mexiko durch den Vater beruhen müssen. Dies kommt insbesondere auch im Untersuchungsbericht von Dr. D. vom 6. Februar 2015 zum Ausdruck, welchem gegenüber C. von Albträumen berichtete, die sich um „tote Hühner“ oder „den bösen mexikanischen Mann“ drehen. Dabei nahm C. offensichtlich Bezug auf das geköpfte Huhn, welches gemäss der Darstellung des Vaters drei Tage vor der Abreise in die Schweiz als Warnung vor der Haustür gelegen haben soll. Es wurde aber nie behauptet, dass C. diesen oder ähnliche Vorfälle selbst wahrgenommen hätte, und es ist auch nicht bekannt, dass sie dem Kindesvertreter oder dem Gericht gegenüber Derartiges erwähnt hätte. Dass ausserdem „der böse mexikanische Mann“ das Kind im Traum verfolgt, könnte damit zusammenhängen, dass der Vater dem Mädchen geschildert hat, dass in Mexiko jedes Jahr Tausende von Kindern geraubt und umgebracht würden. Es gibt aber keine Anhaltspunkte, dass die entsprechenden Befürchtungen des Kindes mit real Erlebtem zusammenhängen würden, etwa indem Schulkameraden von C. entführt worden wären. Im Übrigen äusserte C. gegenüber Dr. D., gegenüber dem Kindesvertreter und gegenüber dem Gericht, dass sie „Angst vor Mexiko“ habe. Während sie diese Angst dem Gericht gemäss dem Gesprächsprotokoll nicht näher erläuterte, gab sie dem Kindesvertreter zur Begründung an, dass es in Mexiko täglich Schiessereien gebe. Es wurde aber von keiner Seite behauptet und von C. auch nie erwähnt, dass sie selbst solche oder andere Gewaltvorfälle mitbekommen hätte; die „täglichen Schiessereien“ sind ihr offensichtlich nur aus dem bekannt, was man ihr nachträglich über Mexiko erzählt hat. Altersuntypisch ist ferner das Vorbringen von C. gegenüber Dr. D., sie habe Angst um ihre Mutter und die erweiterte Familie (Grossmutter, diverse Onkel und Tanten) aufgrund des Umstandes, dass diese in Mexiko lebten. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter oder ihr Umfeld im heutigen Lebensalltag gefährdet wären; noch weniger besteht ein Fingerzeig, dass C. selbst etwas von einer Gefährdung mitbekommen hätte, weshalb nicht erklärbar ist, wie sie aus eigenem Antrieb auf entsprechende Befürchtungen, insbesondere in Bezug auf die weiteren Verwandten hätte kommen können. Dies scheint jedenfalls umso merkwürdiger, als sie bei der gerichtlichen Anhörung angab, in Mexiko keine Verwandten zu haben; diese können ihr folglich nicht persönlich sehr nahe stehen. Die einzige Wahrnehmung von C., welche als autonom gelten darf, ist diejenige, dass sie in Mexiko jeweils zur Schule begleitet wurde, während sie hier ihren Schulweg selbst absolviert. Allerdings kann die Begleitung auch aufgrund des damaligen konkreten Schulwegs (über welchen nichts bekannt ist) erforderlich gewesen sein. Von dort aus, wo die Mutter jetzt wohnt, könnte C. jedenfalls alleine zur Schule gehen (dazu E. 6.2).

Ein unbeeinflusstes Kind im Alter von C. würde typischerweise aus seinem konkreten Lebensalltag berichten, wobei eine authentische Erzählung mit individuellen Details angereichert wäre. Dass C. in ihrer stereotyp wirkenden Aussage keinen Bezug zu eigenen Erlebnissen herstellt, sondern in einer Weise von Schiessereien und Entführungen in Mexiko spricht, wie wenn sie die Reisehinweise des EDA und des deutschen Auswärtigen Amtes gelesen hätte, spricht gegen einen autonom gebildeten Willen. Auch das Obergericht, von welchem das Kind persönlich angehört wurde, hatte den Eindruck, dass die Meinung von C. massiv beeinflusst und ihr Wille fremdbestimmt sei.

5.3. Beruhen die Äusserungen des Kindes nicht auf autonomer Willensbildung, bedeutet dies nach dem in E. 5.1 Gesagten in (staatsvertrags-) rechtlicher Hinsicht, dass es ‒ unabhängig vom Alter des Kindes ‒ an der entscheidenden Voraussetzung für die Anwendung von Art. 13 Abs. 2 HKÜ gebricht.

2. (…) Die Frage nach dem Kindeswillen in Bezug auf einen Verbleib in der Schweiz oder einer Rückkehr nach Mexiko ziele am Problem von C. vorbei: Ihr Wille sei vielmehr, mit beiden Eltern in regelmässigem Kontakt zu sein, nachdem ihr kindgemäss grösster Wunsch nach Wiedervereinigung der Familie nicht erfüllbar sei. Mit dieser Perspektive sei sowohl ein Verbleib in der Schweiz unter Rückkehr der Mutter nach Mexiko als auch eine Rückkehr nach Mexiko ohne Vater nicht das, was ihrem Willen entspreche. Würde sie von der väterlichen oder der mütterlichen Seite aktuell nach ihrem Willen befragt, so sei zu erwarten, dass sie jeweils jene Antwort geben würde, von der sie meine, dass man sie von ihr erwarte. (…)

Rückführung und Modalitäten:

7. Nach dem Gesagten ist die Rückführung von C. nach Mexiko anzuordnen. Die Mutter beantragt die Erteilung eines entsprechenden Vollzugsauftrages an das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau als Vollzugsbehörde.

Die grundsätzlichen Modalitäten der Vollstreckung dürfen nicht einfach der Vollzugsbehörde überlassen werden; vielmehr sind sie durch das Gericht zu regeln (Art. 12 Abs. 1 BG-KKE). Indes bedarf dies organisatorischer Vorkehrungen und einer Koordination mit den Eltern, dem Kindesvertreter und der kantonalen Vollzugsbehörde. Zumal das Bundesgericht nicht direkt auf deren Personal zugreifen kann, ist das Obergericht als sachnahe Instanz mit der konkreten Regelung der Rückführung zu betrauen. Bemerkt sei lediglich, dass nicht eine Rückführung durch die zuständige Stelle des Departementes im Vordergrund stehen muss. Wie sich aus den Akten ergibt, war im Zusammenhang mit der kantonalen Gerichtsverhandlung ein Ticket für den Rückflug des Kindes gemeinsam mit der Mutter gebucht. Eine solche Lösung könnte durchaus sinnvoll sein, zumal es keine Direktflüge zwischen der Schweiz und Mexiko gibt, was eine Begleitung durch schweizerische Amtspersonen bis ins Zielland ebenso wie eine freiwillige Rückführung durch den Vater problematisch machen könnte.

Mithin ist die Sache mit der ‒ unter dem Vorbehalt unvorhersehbarer objektiver neuer Entwicklungen (wie beispielsweise Naturkatastrophe oder Unmöglichkeit der Mutter, das Kind bei sich aufzunehmen) stehenden ‒ verbindlichen Vorgabe der Rückführung von C. zur weiteren Behandlung im Sinn der Erwägungen an das Obergericht zurückgewiesen.

Nachtrag (23.7.2018)

Drei Jahre später lebt die nun 12 ½-jährige Tochter wieder mit dem Vater in der Schweiz. Sowohl das Kantonsgericht St. Gallen als auch das Bundesgericht mit Urteil vom 9. Juli 2018 (5A_475/2018) lehnen nun die erneute Rückführung des Kindes nach Mexico ab, da diese jetzt in der Lage ist, eine eigene Meinung zu bilden und da sie sich der Rückführung widersetzt.

4. Kern des angefochtenen Entscheides wie auch der Beschwerde bildet der Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ. Gemäss dieser Staatsvertragsbestimmung kann von einer Rückführung abgesehen werden, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, die eine Berücksichtigung seiner Meinung als angebracht erscheinen lassen.
(…)
4.2. Die publizierte Rechtsprechung zum Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ wurde in den Urteilen 5A_229/2015 vom 30. April 2015 E. 5.1 und 5A_666/2017 vom 27. September 2017 E. 5 zusammengefasst, und zwar wie folgt: Das HKÜ legt kein bestimmtes Alter fest, ab wann ein Widersetzen des Kindes berücksichtigt werden kann. In der Lehre werden Mindestalter zwischen 10 und 14 Jahren postuliert (für Nachweise vgl. BGE 131 III 334 E. 5.2 S. 340; 133 III 146 E. 2.3 S. 148 f.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die erforderliche Reife im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HKÜ erreicht, wenn das Kind zu autonomer Willensbildung fähig ist, d.h. wenn es seine eigene Situation zu erkennen und trotz der äusseren Einflüsse eine eigene Meinung zu bilden vermag (BGE 131 III 334 E. 5.1 S. 340) und wenn es den Sinn und die Problematik des anstehenden Rückführungsentscheides verstehen kann; dies heisst, dass es insbesondere erkennen können muss, dass es nicht um die Sorgerechtsregelung, sondern vorerst nur um die Wiederherstellung des aufenthaltsrechtlichen Status quo ante geht und alsdann im Herkunftsstaat über die materiellen Fragen entschieden wird (BGE 133 III 146 E. 2.4 S. 149 f.). Gestützt auf die einschlägige kinderpsychologische Literatur geht die bundesgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass die erwähnten Voraussetzungen in der Regel ab ungefähr elf bis zwölf Jahren gegeben sind (BGE 133 III 146 E. 2.4 S. 150). Indes darf auch der aktenkundig geäusserte Wille eines etwas jüngeren Kindes nicht einfach ausgeblendet werden; vielmehr hat sich das Gericht damit auseinanderzusetzen. In jedem Fall ist aber Voraussetzung, dass der geäusserte Kindeswillen, damit er die Basis für den eigenständigen Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ bilden kann, autonom gebildet worden ist. Selbstverständlich erfolgt eine jede Willensbildung nicht völlig losgelöst von äusserer Beeinflussung, schon gar nicht bei kleineren Kindern (BGE 131 III 334 E. 5.1 S. 340). Er darf aber nicht auf einer Manipulation oder Indoktrination beruhen, denn es lässt sich dort nicht mehr von einem dem Kind zurechenbaren autonomen Willen sprechen, wo es bloss die Ansicht seiner momentanen Bezugsperson transportiert. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung zu verstehen, wonach das Widersetzen des Kindes im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HKÜ mit einem gewissen Nachdruck und mit nachvollziehbaren Gründen vertreten werden muss (vgl. BGE 133 III 88 E. 4 S. 91; nicht beanstandet im Urteil Nr. 3592/08 des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 22. Juli 2014).

Zusammenfassend wird also im Sinn einer Richtlinie bei Kindern ab ungefähr elf bis zwölf Jahren von einer den Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ begründenden Willensbildungsfähigkeit ausgegangen, wobei der Wille mit einem gewissen Nachdruck und nachvollziehbaren Gründen geäussert werden muss und er nicht aufgrund elterlicher Manipulation entstanden sein darf.

4.3. Die Mutter anerkennt letztlich, dass die heute 12½-jährige C. ein Alter erreicht hat, in welchem ein Kind grundsätzlich zu autonomer Willensbildung fähig und insofern dem geäusserten Kindeswillen grundsätzlich Beachtung zu schenken ist. Sie geht aber davon aus, dass das Mädchen nach wie vor unter starkem Einfluss des Vaters und dessen Familie steht und der geäusserte Kindeswillen deshalb fremdbestimmt ist. So könne sie sich nicht klar dazu äussern, zu welchem Elternteil sie sich stärker hingezogen fühle, und sie stehe in einem enormen Spannungsfeld, was ihr verunmögliche, einen freien Entschluss in Bezug auf ihren Aufenthaltsort zu fällen. Daran habe sich seit dem Rückführungsverfahren im Jahr 2015 nichts geändert. Nur schon aufgrund der Vorgeschichte sei es höchst unwahrscheinlich, dass die damals erwiesene Beeinflussung durch den Vater seither eingestellt worden sei. So erscheine es beispielsweise unglaubwürdig, dass es der Idee eines 12-jährigen Kindes entspringe, seinen Willen notariell beglaubigen zu lassen. Weiter müsse davon ausgegangen werden, dass sich das Mädchen nur unter väterlichem Einfluss im Nachgang zur Vermittlungsverhandlung an die Kindesvertreterin gewandt und dieser mitgeteilt habe, dass sie auch unter Zwang nicht in ein Flugzeug nach Mexiko einsteigen werde.

4.4. Während im Zusammenhang mit der Kindesrückführung im Jahr 2015 die Beeinflussung des Kindes durch den Vater ins Auge sprang (dazu im Einzelnen Urteil 5A_229/2015 vom 30. April 2015 E. 5.2), ergeben sich für das vorliegende Verfahren aus den kantonalen Sachverhaltsfeststellungen keine Hinweise auf eine eigentliche Manipulation des Kindeswillens. Im Gegenteil spricht die Tatsache, dass C. bereits in Mexiko, wo sie überwiegend bei der Mutter lebte, den Wunsch äusserte, in der Schweiz leben zu dürfen, und sie die Mutter zunehmend auch drängte, ihrem Bitten nachzugeben, für eine autonome Willensbildung. Gegen eine massgebliche Beeinflussung des Kindeswillens spricht weiter, dass C. Mexiko keineswegs verteufelt, sondern es ihr dort ebenfalls gut gefällt und sie gerne für Ferienaufenthalte zurückkehren möchte. Gleich zu bewerten sind ihre Aussagen, dass sie beide Elternteile gern hat und es ihr Herzensanliegen wäre, soweit beide in ihrer Nähe zu haben. Die gute Beziehung zu beiden Elternteilen äusserte sich auch darin, dass C. (wie sich aus der Stellungnahme der Kindesvertreterin an das Bundesgericht ergibt) mit ihrer Mutter möglichst viel Zeit verbringen wollte, als diese für das vorinstanzliche Rückführungsverfahren in der Schweiz weilte. Die Tatsache des zu beiden Seiten intakten Eltern-Kind-Verhältnisses (in den Worten der Mutter: C. könne sich nicht entscheiden, zu wem sie sich mehr hingezogen fühle) spricht entgegen den Ausführungen in der Beschwerde nicht für eine Beeinflussung durch den Vater, sondern wie gesagt dagegen, ist dies doch erfahrungsgemäss ein zentrales Anliegen von Kindern und wirken die entsprechenden Aussagen von C. spontan und natürlich. Es ist zu hoffen, dass gute und freie Kontakte (Skype, Besuche in der Schweiz, Ferienaufenthalte in Mexiko, etc.) zum anderen Elternteil im Anschluss an den vorliegenden Entscheid im Interesse des Kindes ermöglicht und gefördert werden.

Für den auf Verbleib in der Schweiz gerichteten und im Übrigen seit längerer Zeit gegenüber verschiedenen Personen bzw. Institutionen und in unterschiedlichen Situationen bzw. Konstellationen konstant geäusserten Kindeswillen vermag C. nachvollziehbare und altersadäquate Gründe zu nennen, nämlich die schulische Situation, die späteren beruflichen Möglichkeiten (die mit den „grösseren Chancen“ offensichtlich angesprochen sind) und die generell grösseren Freiheiten. Hierfür verfügt das zwischenzeitlich 12½-jährige Mädchen über umfassende und auf eigener Wahrnehmung beruhende Grundlagen, kennt es doch die Umgebung, die Wohn- und Schulsituation sowie das familiäre Umfeld in beiden Ländern aus eigener und während längeren Zeiteinheiten gewonnener Erfahrung. Aufgrund dieser Umstände und auch, weil es bereits einmal eine Rückführung durchgemacht hat, kann es deren volle Tragweite sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den konkreten Lebensalltag abschätzen.

Sodann hat C. ihren Willen auch mit einem gewissen Nachdruck kundgetan. So ist sie in Mexiko mit ihrem Anliegen mehrmals ihre Mutter angegangen und hat sich auch mehrmals mit Briefen an die dortigen Richter gewandt. Schliesslich ist sie nach ihrer Darstellung bei der Anhörung aus eigenen Stücken von einem Besuchswochenende beim Vater nicht mehr zur Mutter zurückgekehrt, um ihren Wunsch in die Tat umzusetzen, als sie zum Schluss kam, dass dieser von der Mutter nicht wahrgenommen bzw. diese einem Landeswechsel nicht zustimmen würde.

All das Gesagte spricht für einen eigenen und gefestigten Willen, im Staat des Verbringens verbleiben zu dürfen, welchen es bei einem offensichtlich gut entwickelten und ziemlich selbständigen 12½-jährigen Mädchen im Rahmen von Art. 13 Abs. 2 HKÜ zu beachten gilt.

4.5. Ferner verweist die Mutter in ihrer Beschwerde darauf, dass in Mexiko nach wie vor das Sorgerechtsverfahren hängig sei und namentlich die psychologische Begutachtung von C. noch ausstehe. Ohne Rückgabe des Kindes werde der mexikanische Entscheid über die Sorgerechtszuteilung gewissermassen vorweggenommen.

In der Tat ist eines der vorrangigen Ziele des HKÜ die Rückführung des Kindes in den Herrschaftsbereich der ursprünglichen Jurisdiktion; dies zeigt sich zum einen darin, dass es im Grundgedanken der Konvention nicht an einen bestimmten Ort, sondern in den Herkunftsstaat zurückzuführen ist (vgl. Präambel des HKÜ; allerdings Möglichkeit und gegebenenfalls auch Pflicht zur Rückführung an einen bestimmten Ort, vgl. Urteil 5A_27/2011 vom 21. Februar 2011 E. 8; für weitere Hinweise siehe namentlich ALFIERI, Enlèvement international d’enfants, Diss. Bern 2016, S. 66), und zum anderen anhand der Verknüpfung des HKÜ mit dem die materielle Sorgerechtszuständigkeit regelnden Haager Kindesschutzübereinkommen (HKsÜ, SR 0.211.231.011), indem der in Art. 5 Abs. 2 HKsÜ für den Fall der Veränderung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes vorgesehene Zuständigkeitswechsel gemäss Art. 7 Abs. 1 und 3 HKsÜ bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes durchbrochen und die ursprüngliche Entscheidzuständigkeit diesfalls aufrechterhalten wird (vgl. auch Art. 16 und 19 HKÜ).

Indes gehören auch die Ausschlussgründe als Teil des Rückführungsübereinkommens zum Haager System. Ist ein Ausschlussgrund gegeben, führt dies – ungeachtet der offenen „kann-Formulierung“ – grundsätzlich dazu, dass Abstand von einer Rückführung genommen wird. Die Argumentation der Mutter würde darauf hinauslaufen, dass die Ausschlussgründe grundsätzlich keine Wirksamkeit erlangen könnten; hierzu sind sie selbstredend nicht geschaffen worden.