SVP-Nationalrat Pirmin Schwander ist in letzter Zeit vor allem als KESB-Kritiker und als Kopf der Volksinitiative „KESB – Mehr Schutz der Familie“ aufgefallen. Schwanders Engagement geht sogar so weit, dass er eine Frau mit CHF 7‘000.– unterstützt hat, die ihr Kind nach einem Obhutsentzug durch die KESB nicht mehr ins Heim zurückbrachte und sich stattdessen in Ausland absetzte. Die zuständige Staatsanwaltschaft will ein Strafverfahren gegen Schwander eröffnen. Zur Diskussion stehen Gehilfenschaft zur Kindesentführung bzw. Gehilfenschaft zum Entziehen von Unmündigen sowie Begünstigung. Was genau passiert ist und wie dies strafrechtlich zu würdigen ist, ist im Strafverfahren zu klären. Die Vorwürfe sind jedenfalls nicht ganz abwegig, denn es geht um sogenannte Dauerdelikte und eine grössere Geldzahlung kann geeignet sein, den rechtswidrigen Zustand zu verlängern.
Die Staatsanwaltschaft muss, da Schwander Nationalrat ist, bei der Immunitätskommission des Nationalrats ein Gesuch um Ermächtigung zur Eröffnung einer Strafuntersuchung stellen (Art. 17 Abs. 1 ParlG). Folglich fragt sich, ob Schwander wegen der parlamentarischen Immunität vor Strafverfolgung geschützt ist.
Art. 162 BV
Immunität
1 Die Mitglieder der Bundesversammlung und des Bundesrates sowie die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler können für ihre Äusserungen in den Räten und in deren Organen rechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.
2 Das Gesetz kann weitere Arten der Immunität vorsehen und diese auf weitere Personen ausdehnen.
Art. 16 ParlG
Absolute Immunität
Die Ratsmitglieder können für ihre Äusserungen in den Räten und in deren Organen rechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Art. 17 ParlG
Relative Immunität: Begriff und Zuständigkeiten
1 Gegen ein Ratsmitglied kann ein Strafverfahren wegen einer strafbaren Handlung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit steht, nur mit der Ermächtigung der zuständigen Kommissionen beider Räte eingeleitet werden. Das Geschäftsreglement jedes Rates bezeichnet die zuständige Kommission.
2 Erscheint es nach den Umständen des Falls gerechtfertigt, so können die zuständigen Kommissionen die Verfolgung und Beurteilung einer strafbaren Handlung, die der kantonalen Gerichtsbarkeit untersteht, den Strafbehörden des Bundes übertragen.
3 Die Vereinigte Bundesversammlung kann eine ausserordentliche Bundesanwältin oder einen ausserordentlichen Bundesanwalt wählen.
4 Ist ein Gesuch offensichtlich unhaltbar, so können die Präsidentinnen oder Präsidenten der zuständigen Kommissionen im gegenseitigen Einvernehmen das Gesuch direkt erledigen.
Art. 17a ParlG
Relative Immunität: Verfahren
1 Das Gesuch um Aufhebung der Immunität wird von der zuständigen Kommission desjenigen Rates zuerst behandelt, dem das beschuldigte Ratsmitglied angehört.
2 Stimmen die Beschlüsse der beiden Kommissionen über das Eintreten auf das Gesuch oder über die Aufhebung der Immunität nicht überein, so findet eine Differenzbereinigung zwischen den Kommissionen statt. Die zweite Ablehnung durch eine Kommission ist endgültig.
3 Die Kommissionen sind beschlussfähig, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder anwesend ist. Die Beschlussfähigkeit ist ausdrücklich festzustellen.
4 Die Kommissionen hören das beschuldigte Ratsmitglied an. Dieses kann sich weder vertreten noch begleiten lassen.
5 Der Entscheid der Kommissionen ist endgültig.
6 Hat eine Kommission ihren Entscheid dem betroffenen Ratsmitglied eröffnet, so informiert sie unverzüglich die Öffentlichkeit. Gleichzeitig orientiert sie die Mitglieder beider Räte mit einer schriftlichen Mitteilung.
7 Ist das beschuldigte Ratsmitglied Mitglied einer der zuständigen Kommissionen, so tritt es in den Ausstand.
Es wird zwischen absoluter und relativer Immunität unterschieden. Im Bereich der absoluten Immunität ist keine Strafverfolgung möglich. Im Bereich der relativen Immunität ist eine Strafverfolgung nur möglich, wenn die Immunitätskommission des Nationalrats und die Rechtskommission des Ständerats die Aufhebung der Immunität zustimmen.
Die zuständigen Parlamentskommissionen haben einen zweistufigen Entscheid zu fällen. Zunächst entscheiden sie, ob überhaupt ein Fall von Immunität vorliegt. Liegt keine Immunität vor, beschliessen sie ein Nichteintreten. Liegt Immunität vor, müssen sie darüber entscheiden, ob die Immunität aufgehoben wird. Der erste Entscheid ist vor allem rechtlich, der zweite eher politisch. In der Vergangenheit wurde nur sehr zurückhaltend die Immunität aufgehoben.
Im Rahmen der Neufassung der Immunitätsbestimmungen wurde insbesondere die Abschaffung der relativen Immunität diskutiert. Mit der Änderung des Parlamentsgesetzes vom 17. Juni 2011 wurde die relative Immunität dann zwar nicht abgeschafft, jedoch wurde diese eingeschränkt. Früher reichte für die Begründung der relativen Immunität ein Zusammenhang mit der amtlichen Stellung und Tätigkeit. Heute wird dagegen ein unmittelbarer Zusammenhang verlangt.
Was ein umittelbarer Zusammenhang ist, ist stark auslegungsbedürftig. Im Bericht der staatspolitischen Kommission des Nationalrats vom 19. August 2010 findet sich folgende Bemerkung:
Die Formulierung «unmittelbarer Zusammenhang» ist von einem älteren Revisionentwurf übernommen worden. Wann ein solcher «unmittelbarer Zusammenhang mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit des Ratsmitglieds» besteht, wäre von Fall zu Fall zu beurteilen sein im Bewusstsein, dass der Gesetzgeber hier eine restriktive Praxis anstrebte.
Bei Schwander ist relativ offensichtlich, dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen seiner amtlichen Tätigkeit und den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft besteht. Deshalb steht er nicht unter dem Schutz der relativen Immunität. Nach altem Recht wäre Schwander wohl durch die relative Immunität geschützt gewesen und die zuständigen Kommissionen hätten diese auch kaum aufgehoben.
Die Immunitätskommission des Nationalrats hat am 3. Oktober 2016 Folgendes entschieden:
Die Immunitätskommission des Nationalrates (IK-N) ist mit 5 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung nicht auf das Gesuch um Aufhebung der Immunität (16.191) eingetreten. Sie sieht keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den erhobenen Vorwürfen und der amtlichen Stellung oder Tätigkeit von Nationalrat Schwander.
16.191 Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Berner Jura-Seeland, hatte mit Gesuch vom 2. September 2016 bei der IK-N die Aufhebung der Immunität von Nationalrat Pirmin Schwander beantragt, respektive um Feststellung ersucht, dass kein Anwendungsfall von parlamentarischer Immunität gegeben ist. Nationalrat Pirmin Schwander wird der Gehilfenschaft zur Entführung von Minderjährigen und Gehilfenschaft zum Entziehen von Minderjährigen verdächtigt. Er soll eine Mutter finanziell unterstützt haben, ihre Tochter entführt und der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Biel entzogen zu haben.
Die Kommission hat Nationalrat Pirmin Schwander angehört. Er machte geltend, seit 2014 politisch sehr aktiv zu sein, um im Bereich der KESB Verbesserungen zu erreichen. So habe er auf kantonaler und nationaler Ebene Initiativen erarbeitet und sei am Aufbau eines privaten Vereines zur Unterstützung von Betroffenen in strittigen Fällen beteiligt.
Die Kommission anerkennt den Einsatz von Nationalrat Pirmin Schwander, sieht allerdings keinen unmittelbaren Zusammenhang zu seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit als Nationalrat. Die strafrechtliche Relevanz der Vorwürfe habe nicht sie, sondern die Justiz zu beurteilen. In der Eintretensdiskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Immunitätsbestimmungen erst 2011 revidiert worden seien. Es entspreche dem Willen des Gesetzgebers, das Strafverfolgungsprivileg restriktiver anzuwenden und den Schutzbereich der relativen Immunität enger zu fassen. Es sei daher nicht jegliche im Zusammenhang mit dem parlamentarischen Mandat stehende Handlung geschützt. Vielmehr müsse eine enge Verbindung zwischen den vorgeworfenen Handlungen und der amtlichen Stellung oder Tätigkeit vorliegen. Es wäre nach Einschätzung der Kommission durchaus denkbar, dass eine nicht der Bundesversammlung angehörende Person in gleicher Weise wie Nationalrat Schwander tätig wäre. Würde im vorliegenden Fall ein unmittelbarer Zusammenhang angenommen, wären in Zukunft kaum mehr Konstellationen denkbar, in denen dieser verneint werden könnte. Eine derart weitgreifende Auslegung der parlamentarischen Immunität würde nach Ansicht der Kommission, deren Glaubwürdigkeit schaden. Die Kommission ist weiter der Ansicht, dass kein Fall missbräuchlicher Strafverfolgung vorliege, durch welche Nationalrat Schwander an der Ausübung seines Mandates gehindert werden soll.
Am 24. Oktober 2016 wird die Rechtskommission als zuständige Kommission des Ständerates das Gesuch behandeln. Bei gleichlautendem Beschluss der ständerätlichen Kommission ist das Nichteintreten definitiv und die Einleitung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft möglich. Sollte die Kommission des Ständerates einen abweichenden Beschluss fällen, würde das Geschäft zur Differenzbereinigung an die Immunitätskommission des Nationalrates zurückgehen.
Update 25.10.2016
Am 24. Oktober 2016 entschied die Rechtskommission des Ständerates mit 8 zu 3 Stimmen, dass Nationalrat Schwander nicht durch die parlamentarische Immunität geschützt werde. Für die Begründung verwies sie auf die Medienmitteilung der Immunitätskommission des Nationalrats.
Schwander muss sich nun folglich daran gewöhnen, dass er in nächster Zeit als Beschuldigter bezeichnet wird.