Muss der Beschuldigte im abgekürzten Verfahren persönlich vor Gericht erscheinen?

Beim abgekürzten Verfahren (Art. 358-362 StPO) verständigen sich die Staatsanwaltschaft und der Beschuldigte auf einen Urteilsvorschlag, der vom Gericht abgesegnet werden muss.

In der Strafprozessordnung (StPO) steht Folgendes:

Art. 361 StPO
Hauptverhandlung
1 Das erstinstanzliche Gericht führt eine Hauptverhandlung durch.
2 An der Hauptverhandlung befragt das Gericht die beschuldigte Person und stellt fest, ob:
a. sie den Sachverhalt anerkennt, welcher der Anklage zu Grunde liegt; und
b. diese Erklärung mit der Aktenlage übereinstimmt.
(…)

Gemäss StPO findet eine Hauptverhandlung statt, bei der das Gericht den Beschuldigten befragt. Ein Erlass des persönlichen Erscheinens des Beschuldigten im Sinne von Art. 336 Abs. 3 StPO ist folglich nicht möglich.

Art. 336 StPO
Beschuldigte Person, amtliche und notwendige Verteidigung
1 Die beschuldigte Person hat an der Hauptverhandlung persönlich teilzunehmen, wenn:
a. Verbrechen oder Vergehen behandelt werden; oder
b. die Verfahrensleitung ihre persönliche Teilnahme anordnet.
(…)
3 Die Verfahrensleitung kann die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen dispensieren, wenn diese wichtige Gründe geltend macht und wenn ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist.
4 Bleibt die beschuldigte Person unentschuldigt aus, so sind die Vorschriften über das Abwesenheitsverfahren anwendbar.
(…)

In einem Urteil vom 24. Juni 2013 (BGE 139 IV 233) beschäftigte sich das Bundesgericht im Wesentlichen der Frage, ob der Beschuldigte in der Hauptverhandlung sein Geständnis wiederholen muss. Dies setzt implizit voraus, dass der Beschuldigte persönlich anwesend sein muss.

Ein Urteil im abgekürzten Verfahren setzt voraus, dass die beschuldigte Person ihr Geständnis in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bestätigt. Das gerichtliche Bestätigungsverfahren ist einer der Schutzmechanismen dieses speziellen Verfahrens. Die Möglichkeit, dass die beschuldigte Person ihre Zustimmung zur Anklageschrift widerruft, ist hinzunehmen, wenn sich das Gericht nicht persönlich davon überzeugen kann, dass sie den angeklagten Sachverhalt anerkennt (E. 2.5 und 2.6).

2.5 Das Bundesgericht hat sich bislang noch nicht dazu geäussert, ob ein Urteil im abgekürzten Verfahren voraussetzt, dass die beschuldigte Person ihr Geständnis in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bestätigt.

2.5.1 Gemäss Art. 361 Abs. 1 und 2 StPO führt das erstinstanzliche Gericht eine Hauptverhandlung durch, an welcher es die beschuldigte Person befragt und feststellt, ob diese den Sachverhalt anerkennt, welcher der Anklage zu Grunde liegt, und ob diese Erklärung mit der Aktenlage übereinstimmt. Wenn nötig befragt es auch die übrigen anwesenden Personen. Ein Beweisverfahren findet indes nicht statt (Art. 361 Abs. 3 und 4 StPO). Soweit beim abgekürzten Verfahren keine besonderen Vorschriften bestehen, namentlich zur Hauptverhandlung, sind die allgemeinen Regeln anwendbar (vgl. … ). Das Gericht befindet frei darüber, ob (a) die Durchführung des abgekürzten Verfahrens rechtmässig und angebracht ist, (b) die Anklage mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und den Akten übereinstimmt und (c) die beantragten Sanktionen angemessen sind (Art. 362 Abs. 1 StPO).
(…)
2.6 Das gerichtliche Bestätigungsverfahren ist einer der gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismen im abgekürzten Verfahren. Die Befragung der beschuldigten Person anlässlich der Hauptverhandlung stellt dabei ein wesentlicher Bestandteil dar. Die Anerkennung des angeklagten Sachverhalts durch die beschuldigte Person gemäss Art. 361 Abs. 2 lit. a StPO muss als Erneuerung des Geständnisses verstanden werden, das diese bereits im Vorverfahren ablegte. Angesichts des Ausnahmecharakters des abgekürzten Verfahrens kann auf eine solche Bestätigung nicht verzichtet werden. Wenn sich die beschuldigte Person an der Hauptverhandlung auf ihr Aussageverweigerungsrecht beruft, kann das Gericht seine Prüfungspflichten nicht wahrnehmen. In einem solchen Fall kann es lediglich feststellen, dass die Voraussetzungen für ein Urteil im abgekürzten Verfahren nicht erfüllt sind, weshalb die Akten nach Art. 362 Abs. 3 Satz 1 StPO an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung eines ordentlichen Vorverfahrens zurückzuweisen sind. Die Verweigerung der Aussage an der Gerichtsverhandlung führt zwar faktisch zur Möglichkeit, die (grundsätzlich unwiderrufliche, vgl. Art. 360 Abs. 2 StPO) Zustimmung zur Anklageschrift zu widerrufen. Diese Folge ist aber hinzunehmen, wenn sich das Gericht nicht persönlich davon überzeugen kann, dass die beschuldigte Person den angeklagten Sachverhalt anerkennt. Andernfalls könnte ebenso gut auf die Durchführung einer Hauptverhandlung und das gerichtliche Bestätigungsverfahren verzichtet werden.

Auch wenn die Rechtslage klar ist, dass ein persönliches Erscheinen des Beschuldigten an der Hauptverhandlung notwendig ist, sieht die erstinstanzliche Gerichtspraxis teilweise anders aus, weil aus prozessökonomischen Gründen das Bedürfnis besteht, dass die Hauptverhandlung im abgekürzten Verfahren ausnahmsweise auch ohne persönliche Anwesenheit des Beschuldigten durchgeführt werden kann. So können zum Beispiel Kriminaltouristen bereits nach Anklageerhebung abgeschoben werden und müssen nicht bis zur Gerichtsverhandlung in Haft bleiben.

Fallbeispiel: Ein ausländischer Delinquent willigte in ein abgekürztes Verfahren ein und stimmte dem Urteilsvorschlag zu, der eine bedingte Freiheitsstrafe vorsah. Im Anschluss wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Migrationsamt verfügte die Wegweisung und das Staatssekretariat für Migration erliess eine Einreisesperre.

In diesem Fall habe ich beim zuständigen Bezirksgericht beantragt, da der Beschuldigte im Ausland lebt, die Einreisesperre zunächst temporär aufgehoben werden müsste, nur eine bedingte Freiheitsstrafe zur Diskussion steht und da der Beschuldigte die Anklage im abgekürzten Verfahren nach wie vor anerkennt, dass dem Beschuldigten das persönliche Erscheinen zu erlassen sei.

Die Alternative wäre nämlich, wenn der Beschuldigte nicht in zur Hauptverhandlung kommen würde, dass die Anklage im vereinfachten Verfahren zurückgewiesen werden und die Staatsanwaltschaft eine ordentliche Anklage erheben müsste. Die Hauptverhandlung müsste mangels Beschuldigten abgebrochen werden (Art. 336 Abs. 4 i.V.m. Art. 366 Abs. 1). Die zweite Hauptverhandlung würde dann im Abwesenheitsverfahren durchgeführt (Art. 366 Abs. 3 StPO).

Das Bezirksgericht Affoltern entschied in diesem Fall mit Verfügung vom 6. November 2017 Folgendes:

Der Gerichtspräsident führte an der Hauptverhandlung aus, dass mit diesem Vorgehen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Genüge getan ist. Das Bezirksgericht Affoltern bestätigte in der Folge den Urteilsvorschlag ohne persönliche Anwesenheit des Beschuldigten, was vorliegend eine pragmatische und sinnvolle Lösung war.

Die Verfügung zeigt, dass das Bezirksgericht Affoltern dieses Vorgehen offensichtlich nicht das erste Mal gewählt hat. In einem NZZ-Artikel vom 15.11.2013 wurde von einem Fall am Bezirksgericht Dietikon berichtet, in dem dem Beschuldigten das persönliche Erscheinen erlassen worden war. Es handelte sich um einen Kriminaltouristen, der nach der Haftentlassung in sein Heimatland zurückgeschafft worden war. Schliesslich hängt es jedoch allein vom erstinstanzlichen Gericht ob, ob es den Beschuldigten von der Hauptverhandlung dispensieren will. Eigentlich wäre es angezeigt, die Strafprozessordnung zu ändern, um im Ausnahmefall, namentlich bei Kriminaltouristen, die Möglichkeit zu schaffen, dem Beschuldigten das persönliche Erscheinen zu erlassen.