KESB-Initiative: Fake News à la SVP

In der SVP-Parteizeitung (SVP Klartext Juni 2019) findet sich der Artikel „KESB-Initiative – schützen Sie Ihre Freiheit!“ von Nationalrätin Barbara Keller-Inhelder. In diesem Artikel finden sich insbesondere folgende Ausführungen:

Weshalb braucht es dringend die KESB-Initiative?
Anders als in anderen Rechtsgebieten liegt die Beweislast hier nicht bei der Behörde, die in Ihre Freiheit eingreifen will, sondern bei Ihnen selber als betroffene Person. Nicht die KESB muss beweisen, dass ein Eingreifen notwendig ist, sondern Sie müssen beweisen können, dass Sie gut ohne die KESB zurecht kommen. Als eines von vielen Beispielen aus der Praxis: Für eine ältere Person, die nach einer Gefährdungsmeldung mit physischer Gewalt aus ihrem Eigenheim abgeführt, in einem Heim platziert und dort mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, und die ab sofort keinen Zugriff mehr auf ihr Vermögen hatte, um einen Anwalt zu bezahlen, war das schlicht unmöglich. Die KESB-Initiative will diese Beweislast wieder umkehren und die masslose Macht der KESB einschränken.

Zum gleichen Thema äusserte sich NRin Keller-Inhelder bereits im Tagesanzeiger von 12. April 2019 („Wir alle brauchen einen Vorsorgeauftrag“). Dort äusserte sie sich folgendermassen:

(…) Auch mit der Initiative blieben die Gefährdungsmeldung und das Strafrecht bestehen. Bei Missständen könnte, ja müsste der Staat weiterhin eingreifen. Die Beweislast läge aber nicht mehr bei den Betroffenen, sondern bei den Behörden.

Heute ist es umgekehrt: Nicht die Kesb muss nachweisen, dass jemand Probleme hat. Sondern Betroffene müssen beweisen, dass sie allein zurechtkommen, und sie müssen dafür unter Umständen viel Geld und Ressourcen aufwenden.

Zunächst muss ich sagen, dass ich die Argumentation von NRin Keller-Inhelder in rechtlicher Hinsicht doch sehr seltsam finde. Nicht die KESB müsse beweisen, dass ein Eingreifen notwendig, sondern die betroffene Person müsse beweisen, dass kein Eingreifen notwendig sei. Das erinnert mich an den Strafprozess, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Dort muss das Gericht die Schuld des Beschuldigten nachweisen und nicht umgekehrt. NRinKeller-Inhelder behauptet jedoch genau das Gegenteil. Ihre Argumentation erinnert mich im Übrigen auch stark an Franz Kafkas Roman „Der Prozess“:

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

In der Folge versucht K. herauszufinden, was ihm vorgeworfen wird. Die KESB ist dagegen sehr greifbar und kein kafkaesker Albtraum. Das Verfahren bei der KESB richtet sich nach rechtsstaatlichen Regeln. Und dass die betroffene Person beweispflichtig sein solle, dass sie keine Hilfe brauche, ist sicher nicht solch eine Regel. Die Argumentation von NRin Keller-Inhelder läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass es eine gesetzliche Vermutung gibt, dass alle Leute, welche bei der KESB landen, grundsätzlich hilfebedürftig sind. Diese müssten dann das Gegenteil nachweisen. Das ist natürlich vollkommener Blödsinn.

Art. 8 ZGB
E. Beweisregeln / I. Beweislast
Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet.

Die Frage der Beweislast bzw. Beweislastverteilung ist bei der KESB meist gar nicht passend bzw. nicht relevant. Unter Beweislastverteilung versteht man, welche Partei die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat. Es ist somit mindestens eine Partei erforderlich, welche einen Antrag gestellt hat. Das ist aber bei der KESB häufig nicht der Fall, nämlich, wenn die KESB gestützt auf eine Gefährdungsmeldung ein Verfahren eröffnet und den Sachverhalt abklärt. Solche Abklärungen sind grundsätzlich ergebnisoffen. Die KESB kann auch zum Schluss kommen, dass keine Schutzmassnahmen notwendig sind. Die Frage der Beweislast ist vor allem bei Zwei-Parteien-Prozessen, bei denen der Verhandlungsgrundsatz gilt, von Interesse, wenn es also Kläger und Beklagte oder Gesuchstellerin und Gesuchsgegnerin gibt. Verfahren bei der KESB sind dagegen in der Regel keine Zwei-Parteien-Prozesse. Meist gibt es in formeller Hinsicht sogar gar keine Parteien im eigentlichen Sinn. Vielmehr steht das Untersuchungsobjekt im Zentrum. Das KESB-Verfahren ist sowieso ein Verfahren besonderer Art, weshalb gewisse Regeln des normalen Zivilprozesses, welche auf einen Zwei-Parteien-Prozess gemünzt sind, nicht passen.

NRin Keller-Inhelder tut so, als ob es sich bei KESB-Verfahren um Zwei-Parteien-Verfahren handeln würde. Die KESB als Klägerin und die betroffene Privatperson als Beklagte. Das ist natürlich Mumpitz. Die KESB ist in solchen Verfahren nicht Partei, sondern sie ist die verfahrensführende Behörde. Somit erhellt sich auch, dass der Begriff der Beweislast in KESB-Verfahren eigentlich deplatziert ist.

In KESB-Verfahren interessiert die Frage der Beweislast nicht wirklich, da das Verfahren durch den Untersuchungsgrundsatz dominiert wird, was die Frage der Beweislast sowieso stark relativiert. Untersuchungsgrundsatz heisst, dass die KESB den Sachverhalt von Amtes wegen ermittelt. Ihr, und nicht der betroffenen Person, obliegt ausserdem die Herrschaft über den Sachverhalt (Offizialgrundatz). Dies setzt jedoch auch voraus, dass die betroffene Person bei der Sachverhaltsermittlung mitwirkt. Dies ist auch in ihrem Interesse, da nur so der Sachverhalt richtig abgeklärt werden kann. Der ermittelte Sachverhalt bildet dann die Grundlage für den Entscheid der KESB. Rechtlich interessiert deshalb vor allem, ob der Sachverhalt richtig festgestellt worden ist, ob die Beweise richtig gewürdigt worden sind und ob das Ermessen pflichtgemäss ausgeübt worden ist.

Art. 55 ZPO
Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatz
1 Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben.
2 Vorbehalten bleiben gesetzliche Bestimmungen über die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweiserhebung von Amtes wegen.

Diese Bestimmung der Zivilprozessordnung gilt für gerichtliche Verfahren, nicht jedoch für KESB-Verfahren. Für KESB-Verfahren finden sich die Verfahrensgrundsätze im Zivilgesetzbuch.

Art. 446 ZGB
D. Verfahrensgrundsätze
1 Die Erwachsenenschutzbehörde erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen.
2 Sie zieht die erforderlichen Erkundigungen ein und erhebt die notwendigen Beweise. Sie kann eine geeignete Person oder Stelle mit Abklärungen beauftragen. Nötigenfalls ordnet sie das Gutachten einer sachverständigen Person an.
3 Sie ist nicht an die Anträge der am Verfahren beteiligten Personen gebunden.
4 Sie wendet das Recht von Amtes wegen an.

Art. 448 ZGB
F. Mitwirkungspflichten und Amtshilfe
1 Die am Verfahren beteiligten Personen und Dritte sind zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet. Die Erwachsenenschutzbehörde trifft die zur Wahrung schutzwürdiger Interessen erforderlichen Anordnungen. Nötigenfalls ordnet sie die zwangsweise Durchsetzung der Mitwirkungspflicht an.
(…)

Um ihr falsches Argument von der Beweislast zu untermauern, erläutert NRin Keller-Inhelder dieses anhand eines Beispiels. Dieses ist jedoch stark verkürzt, weshalb es nicht überprüft werden kann. Schon in dieser Kürze ist jedoch offensichtlich, dass es nicht so sein kann, wie NRin Keller-Inhelder behauptet. Der tendenziöse Tenor des Beispiels ist, dass eine betroffene Person von der KESB quasi überfallsmässig in ein Heim gesteckt worden sei und ihre Finanzen gesperrt worden seien, weshalb sie sich keinen Rechtsanwalt mehr habe kontaktieren bzw. bezahlen können. Das ist Humbug.

Bis die KESB Erwachsenenschutzmassnahmen erlässt, zieht in der Regel einige Zeit ins Land. Der Sachverhalt muss abgeklärt und Massnahmen müssen organisiert werden. Vor allem wird der betroffenen Person das rechtliche Gehör gewährt. Auch die betroffene Person im Beispiel hatte offensichtlich alle Zeit der Welt, um ein Telefon in die Hand zu nehmen und einem Rechtsanwalt anzurufen. Tatsächlich sind aber häufig gerade die betroffenen Personen das Problem, weil sie eine rechtliche Beratung nicht für nötig erachten oder schlicht zu geizig sind, etwas Geld in einen Anwalt zu investieren. Im Nachhinein ist es ein Leichtes, die Schuld auf die KESB abzuschieben. Das Beispiel von NRin Keller-Inhelder gibt offensichtlich nur den ungefilterten Standpunkt der betroffenen Person wieder. Dies entspricht jedoch nicht dem, was wirklich passiert ist. Das lässt sich aus den Akten ohne weiteres nachvollziehen.

Die betroffene Person hat unbestrittenermassen Anspruch auf rechtliche Vertretung. Die KESB hält niemand davon ab. Diesen Anspruch muss die betroffene Person allerdings auch selbst geltend machen. Wenn die betroffene Person im Beispiel einen Anwalt kontaktiert hätte, hätte sich dieser darum gekümmert, dass die KESB die notwendigen finanziellen Mittel für die Vertretung freigibt. Wenn die betroffene Person nicht über die notwendigen finanziellen Mittel für einen Anwalt verfügt, hätte dieser bei der KESB ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, damit er als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt wird. Und schliesslich in den Fällen, wo die betroffene Person nicht mehr in der Lage ist, ihre Interessen selbst zu vertreten oder einen Anwalt zu mandatieren, hätte die KESB dieser einen Verfahrensbeistand bestellen müssen.

Fazit: NRin Keller-Inhelder und die SVP verbreiten bewusst falsche Argumente aus propagandistischen Gründen. Mit der Wahrheit nimmt man es da nicht so genau. Das nennt man heute Fake News. Es stimmt nicht, dass betroffene Personen nachweisen müssen, dass keine Schutzmassnahmen notwendig seien. Daraus kann abgeleitet werden, dass auch nicht stimmt, dass die KESB-Initiative in Bezug auf diese Frage etwas ändern würde. Somit ist die Argumentation von NRin Keller-Inhelder nichts weiter als das übliche Politikergeschwätz.