Für die Regelung von Kinderbelangen und für Kindesschutzmassnahmen kann sowohl die KESB als auch das Gericht zuständig sein. Soweit eine gerichtliche Zuständigkeit besteht, ist die KESB nicht bzw. nicht mehr weiter zuständig (Art. 134, Art. 179, Art. 298b Abs. 3, Art. 298d Abs. 3, Art. 315a, Art. 315b ZGB; Art. 304 Abs. 2 ZPO). Durch die sogenannte Kompetenzattraktion will man eine Zuständigkeitsspaltung zwischen Gericht und KESB vermeiden. Durch eine gerichtliche Klage (Eheschutzbegehren, Scheidungs- oder Kinderunterhaltsklage) kann somit die KESB ausgeschaltet werden.
Das Urteil des Bundesgerichts vom 22. August 2019 (5A_977/2018 = BGE 145 III xxx) geht von folgendem Sachverhalt aus:
B. Am 27. Oktober 2017 beantragte die Mutter die Neubeurteilung der Betreuungssituation. Nach Anhörung der Eltern und Eingang diverser Berichte regelte die KESB Biel mit Entscheid vom 15. Juni 2018 die Betreuungsanteile der Eltern neu und erteilte ihnen Weisungen sowie der Beiständin diverse Aufträge.
Die hiergegen erhobene Beschwerde des Vaters wies das Obergericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 23. Oktober 2018 ab.
2. Der Vater bringt beschwerdeweise vor, bereits am 11. Mai 2017 habe er (recte: das Kind) bei der Schlichtungsbehörde Biel ein Ladungsgesuch im Zusammenhang mit der Verurteilung der Mutter zu Unterhaltsbeiträgen gestellt. Die Schlichtungsverhandlung sei gescheitert und er (recte: das Kind) habe darauf am 30. Januar 2018 beim Regionalgericht Berner Jura-Seeland eine Unterhaltsklage eingereicht. Im Rahmen der Hauptverhandlung vom 29. Oktober 2018 sei, wie das Verhandlungsprotokoll zeige, auch die Frage der Obhut und der Betreuung Verfahrensgegenstand gewesen. Die Verhandlung sei in der Folge sistiert worden bis bekannt sei, ob er den Entscheid des Obergerichts vom 23. Oktober 2018 anfechte. Offensichtlich hätten sämtliche Beteiligten nicht erkannt, dass die KESB seit der Einreichung der Unterhaltsklage aufgrund von Art. 298b Abs. 3 und Art. 298d Abs. 3 ZGB sachlich gar nicht mehr zuständig gewesen sei. Die KESB hätte das Verfahren, sobald sie von der Hängigkeit des Unterhaltsverfahrens Kenntnis gehabt habe, einstellen und die Parteien für die Neuregelung der Betreuungsanteile an das Regionalgericht verweisen müssen. (…)
3. (…) Im obergerichtlichen Entscheid wird die während des KESB-Verfahrens vom Kind beim Regionalgericht eingereichte Unterhaltsklage mit keinem Wort erwähnt. Offensichtlich hatten die Parteien weder die KESB noch das Obergericht darauf hingewiesen, sondern wurde ihnen bzw. dem Beschwerdeführer die Zuständigkeitsproblematik erst aufgrund eines entsprechenden vorfrageweisen Hinweises des Regionalgerichtes an der Hauptverhandlung im Unterhaltsverfahren bewusst (vgl. Protokoll der HV vom 29. Oktober 2018). (…)
Es ist sehr ungewöhnlich, dass die Parteien die KESB nicht vom gerichtlichen Unterhaltsverfahren informiert haben. Gerade der Kindesvater wäre verpflichtet gewesen, die KESB zu informieren, statt im Nachhinein den Entscheid der KESB anzufechten. Seine Beschwerde stellt meines Erachtens eine Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben (Art. 52 ZPO) dar.
Das Bundesgericht hält fest, dass der Entscheid der KESB nicht nichtig ist, obwohl im Zeitpunkt des Entscheides das Regionalgericht sachlich zuständig gewesen ist:
4. Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Regel nur anfechtbar. Als nichtig erweisen sie sich erst dann, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er sich als offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar erweist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht (BGE 144 IV 362 E. 1.4.3 S. 368; 139 II 243 E. 11.2 S. 260; 138 II 501 E. 3.1 S. 503; 137 I 273 E. 3.1 S. 275).
Die KESB ist grundsätzlich und insbesondere bei nicht verheirateten Eltern die zur Regelung von Kinderbelangen bzw. Kindesschutzmassnahmen zuständige Behörde (vgl. Art. 315 ZGB), soweit nicht bereits ein Gericht mit den entsprechenden Fragen befasst ist, namentlich im Rahmen eines Eheschutz- oder Scheidungsverfahrens (vgl. Art. 133, Art. 176 Abs. 3, Art. 298 und Art. 315a f. ZGB; Botschaft des Bundesrates zur Sorgerechtsrevision, BBl 2011 9094; Urteil 5A_393/2018 vom 21. August 2018 E. 2.2.2). Von der generellen aussergerichtlichen Regelungszuständigkeit ausgenommen ist jedoch der Kindesunterhalt: Die KESB kann zwar elterliche Unterhaltsvereinbarungen genehmigen (Art. 134 Abs. 3 und Art. 287 Abs. 1 ZGB), darf aber in diesem Bereich nicht autoritativ entscheiden.
In der ursprünglichen Fassung von Art. 298b Abs. 3 und Art. 298d Abs. 3 ZGB wurde die Klage auf Leistung des Unterhalts vorbehalten, jedoch keine Koordinationsregel in Bezug auf die weiteren Kinderbelange aufgestellt (vgl. AS 2014 360). In der Folge war unklar, ob das mit dem Unterhalt befasste Gericht über diese, namentlich über die für die Unterhaltsfestsetzung ausschlaggebende Obhuts- und Betreuungsfragen selbst zu urteilen oder ob es das Unterhaltsverfahren zu sistieren und das Ergebnis des KESB-Verfahrens über die Obhutszuteilung abzuwarten habe (zur betreffenden seinerzeitigen Kontroverse in der Lehre vgl. AFFOLTER-FRINGELI/VOGEL, Berner Kommentar, N. 38 zu Art. 298b ZGB).
Im Rahmen der Revision des Kindesunterhaltes hat der Gesetzgeber durch eine Ergänzung von Art. 298b Abs. 3 und Art. 298d Abs. 3 ZGB sowie durch den neu geschaffenen Art. 304 Abs. 2 ZPO mit einer Koordinationsregel Klarheit geschaffen (AB 2014 N 1219 und AB 2014 S 1126). Die auf den 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen gehen dahin, dass das mit der Unterhaltsfrage befasste Gericht im Sinn einer Kompetenzattraktion auch über die Zuteilungsfragen und die weiteren Kinderbelange entscheidet (vgl. AS 2015 4302 f. und 4307; AFFOLTER-FRINGELI/VOGEL, a.a.O., N. 25 und 38 f. zu Art. 298b ZGB sowie N. 27 zu Art. 298d ZGB; MEIER/STETTLER, Droit de la filiation, 6. Aufl. 2019, Rz. 770). Nur am Rand, weil vorliegend nicht weiter interessierend, sei erwähnt, dass im KESB-Verfahren die Eltern die Verfahrensparteien sind, während die Unterhaltsklage vom Kind gegen den einen Elternteil eingeleitet wird. Demzufolge werden im Kind-Eltern-Verfahren Themen der Elternebene attrahiert, was den förmlichen Einbezug des anderen Elternteils (welcher in vielen Fällen das Kind im Unterhaltsprozess vertreten wird) in das Verfahren verlangt. Dies scheint vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen worden zu sein.
Aus dem Gesagten erhellt, dass die KESB zwar die Entscheidkompetenz namentlich über die Obhut und die Betreuungsanteile an das Gericht abzugeben hat, sobald dieses mit der Unterhaltsfrage befasst ist. Dennoch lässt sich nicht sagen, dass ein in Verletzung der richterlichen Kompetenzattraktion ergangener KESB-Entscheid über die Obhut und/oder die Betreuungsanteile nichtig wäre, entscheidet doch die KESB hier im Bereich ihrer genuinen Kernzuständigkeit (vgl. zur Rechtsprechung, wonach keine Nichtigkeit vorliegt, wenn eine Behörde auf dem Gebiet ihrer allgemeinen Entscheidungsgewalt tätig wird (BGE 137 III 217 E. 2.4.3 S. 225; 129 V 485 E. 2.3 S. 488; 127 II 32 E. 3g S. 47 f.; Urteile 5A_393/2018 vom 21. August 2018 E. 2.2.1; 1C_447/2016 vom 31. August 2017 E. 3.2; 5A_737/2014 vom 26. Mai 2015 E. 3.1). Zudem wird ihre Entscheidkompetenz in hängigen Verfahren lediglich im Zusammenhang mit Unterhaltsklagen und damit bloss ausnahmsweise derogiert; Grundsatz ist, dass die KESB jene Verfahren, die bei ihr im Zeitpunkt der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens anhängig sind, zu Ende führt (vgl. Art. 315a Abs. 3 Ziff. 1 ZGB). Dass vor diesem Hintergrund der zufolge richterlicher Kompetenzattraktion nachträglich eingetretene Zuständigkeitsverlust jedenfalls nicht „offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar“ im Sinn der vorstehend zitierten Rechtsprechung war, zeigt sich gerade im Umstand, dass sie bis über das abgeschlossene kantonale Rechtsmittelverfahren hinaus keiner der anwaltlich vertretenen Parteien auffiel. Auch dieser Umstand, d.h. dass sie sich vorbehaltlos auf das Verfahren eingelassen und dieses auch nach Hängigkeit der Unterhaltsklage vorbehaltlos weitergeführt haben, ist bei der Frage der Nichtigkeit zu berücksichtigen (BGE 136 II 489 E. 3.3 S. 496).
5. Zusammenfassend ergibt sich, dass die vorinstanzlichen Entscheide keineswegs nichtig sind. Nach dem eingangs von E. 4 Gesagten sind objektiv rechtsfehlerhafte Entscheidung denn auch nur ausnahmsweise nichtig, indes aber grundsätzlich anfechtbar. Ob im vorliegenden Fall der obergerichtliche Entscheid, gegen den fristgerecht Beschwerde beim Bundesgericht erhoben wurde, angesichts der dargestellten zivilrichterlichen Kompetenzattraktion aufzuheben oder ob er angesichts der vorbehaltlosen Fortführung des KESB-Verfahrens durch die Parteien zu schützen wäre, ist nicht zu beurteilen: Zum einen fehlt es an einem entsprechenden Rechtsbegehren (Art. 42 Abs. 1 BGG), denn verlangt wurde einzig die Feststellung der Nichtigkeit (vgl. BGE 91 I 374 E. 5 S. 381 f.). Zum anderen fehlt es an einer diesbezüglichen Beschwerdebegründung (Art. 42 Abs. 2 BGG), und zwar an Ausführungen in Bezug auf das Bundesrecht und erst recht an Willkürrügen in Bezug auf das kantonale Recht, aus welchem der behauptete Rechtsmangel letztlich abgeleitet wird, wie auch an qualifizierten Sachverhaltsrügen bzw. Anträgen zur ausnahmsweisen Sachverhaltsergänzung von Amtes wegen (Art. 97 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG), wie sie als Grundlage bzw. tatsächliche Ausgangsbasis für entsprechende rechtliche Überlegungen notwendig wären.