Alternierende Obhut und Elternkonflikt

In einem Urteil des Bundesgerichts vom 17. Oktober 2019 (5A_312/2019) finden sich folgende Ausführungen:

2.1.2. Die alternierende Obhut kommt grundsätzlich nur in Frage, wenn beide Eltern erziehungsfähig sind. Weiter erfordert die alternierende Obhut organisatorische Massnahmen und gegenseitige Information. Insofern setzt die praktische Umsetzung der alternierenden Obhut bzw. Betreuung voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in den Kinderbelangen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Allein aus dem Umstand, dass ein Elternteil sich einer Regelung mit geteilter Betreuung widersetzt, kann nicht ohne Weiteres geschlossen werden, die nötige Kooperation sei nicht gewährleistet. Ein derartiger Schluss könnte nur dort in Betracht fallen, wo die Eltern aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Feindseligkeiten auch hinsichtlich anderer Kinderbelange nicht zusammenarbeiten können mit der Folge, dass sie ihr Kind im Szenario einer alternierenden Obhut dem gravierenden Elternkonflikt in einer Weise aussetzen würden, die seinen Interessen offensichtlich zuwiderläuft. Weiter kommt es auf die geografische Situation an, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der beiden Eltern. Bedeutsam ist auch die Kindeswohlwirksamkeit der Stabilität, wie sie mit einer Weiterführung der bisherigen Regelung einhergeht. In diesem Sinne ist eine alternierende Obhut umso eher angezeigt, wenn die Eltern das Kind schon vor ihrer Trennung abwechselnd betreut haben. Andere Kriterien sind das Alter des Kindes, seine Beziehungen zu (tatsächlichen oder faktischen) Geschwistern und seine Einbettung in das weitere soziale Umfeld (BGE 142 III 612 E. 4.3 mit Hinweisen). Die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen, spielt hauptsächlich dann eine Rolle, wenn spezifische Bedürfnisse des Kindes eine persönliche Betreuung notwendig erscheinen lassen oder wenn ein Elternteil selbst in den Randzeiten (morgens, abends und an den Wochenenden) nicht bzw. kaum zur Verfügung stünde; ansonsten ist von der Gleichwertigkeit von Eigen- und Fremdbetreuung auszugehen (Urteil 5A_241/2018 vom 18. März 2019 E. 5.1; vgl. auch BGE 144 III 481 E. 4.6.3 und E. 4.7). Beachtung verdient auch der Wunsch des Kindes, selbst wenn es bezüglich der Betreuungsregelung (noch) nicht urteilsfähig ist. Der Richter, der den Sachverhalt von Amtes wegen erforscht (Art. 296 Abs. 1 ZPO bzw. Art. 314 Abs. 1 i.V.m. Art. 446 ZGB), wird im konkreten Fall entscheiden müssen, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht Hilfe von Sachverständigen erforderlich ist, um die Aussagen des Kindes zu interpretieren, insbesondere um erkennen zu können, ob diese seinem wirklichen Wunsch entsprechen. Die Erziehungsfähigkeit beider Eltern ist in jedem Fall notwendige Voraussetzung einer alternierenden Obhut. Die weiteren Beurteilungskriterien hängen oft voneinander ab; ihre jeweilige Bedeutsamkeit richtet sich nach den konkreten Umständen. So spielt das Kriterium der Stabilität bei Säuglingen und Kleinkindern eine wichtige Rolle. Geht es hingegen um Jugendliche, kommt der Zugehörigkeit zu einem sozialen Umfeld grosse Bedeutung zu. Die Kooperationsfähigkeit der Eltern wiederum verdient besondere Beachtung, wenn das Kind schulpflichtig ist oder die Entfernung zwischen den Wohnorten der Eltern ein Mehr an Organisation erfordert (BGE 142 III 612 E. 4.3).

2.1.3. Beim Entscheid über die Anordnung einer alternierenden Obhut ist der Sachrichter in vielfacher Hinsicht auf sein Ermessen verwiesen (Art. 4 ZGB; BGE 142 III 612 E. 4.5 mit Hinweisen). (…)

2.2. Zusammengefasst erwog das Obergericht, es sei bei beiden Eltern keine Einschränkung der Erziehungsfähigkeit zu erkennen, offenkundig sei aber ein schwerer Elternkonflikt gegeben (beide Parteien hätten gegenseitig Strafanzeigen eingereicht; beide hätten superprovisorische Begehren gestellt; der Beschwerdeführer werfe der Beschwerdegegnerin u.a. Erpressung, Verleumdung, eine schlechte Gesinnung und das Fehlen jeglichen Verantwortungsbewusstseins vor; er habe im erstinstanzlichen Verfahren ohne Einwilligung der Beschwerdegegnerin zahlreiche von ihr verfasste E-Mails eingereicht; die Beschwerdegegnerin habe nach einem offensichtlich nicht sehr schwerwiegenden Vorfall, anlässlich welchem der Beschwerdeführer sie „heftig am Arm“ gepackt und so Hämatome verursacht haben soll, Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer eingereicht; die Beschwerdegegnerin habe dem Beschwerdeführer während über eines halben Jahres das Besuchsrecht verweigert). Für die Obhutsfrage sei nicht entscheidend, wer für den Konflikt verantwortlich sei, und der Beschwerdeführer habe nicht substanziiert darlegen können, wie trotz des schweren Elternkonflikts eine mit einem alternierenden Betreuungskonzept einhergehende bzw. zwingend erforderliche einwandfreie Kommunikation in Bezug auf das Kind zwischen den Parteien funktionieren soll. Damit seien die Voraussetzungen einer alternierenden Obhut zumindest im jetzigen Zeitpunkt klar nicht erfüllt. Im Übrigen habe die Bestimmung des Obhutsberechtigten in einem Eheschutzverfahren eher vorläufigen Charakter. Auch das Bezirksgericht habe festgehalten, dass die alternierende Obhut aufgrund des bisher gelebten Betreuungsmodells in einem späteren Verfahren erneut zu prüfen sei.
(…)
2.4. Weil das Obergericht einerseits aus dem festgestellten Sachverhalt unzulässige Schlussfolgerungen gezogen hat (zufolge des Elternkonflikts seien die Voraussetzungen für eine geteilte Obhut nicht gegeben), und andererseits nicht auf die rechtlich massgeblichen Kriterien abgestellt hat (Unterlassung der Prüfung, ob die Eltern auch in anderen Kinderbelangen nicht zu kooperieren vermögen), erweist sich der angefochtene (Ermessens-) Entscheid als offensichtlich unhaltbar (E. 2.1.3). Er ist aufzuheben und die Sache an das Obergericht zurückzuweisen, damit es den Sachverhalt ergänze und in der Sache neu entscheide. (…)