Mein Kind wird nun doch geimpft

Vor zwei Jahren beschäftigte ich mich im Beitrag „Mein Kind wird nicht geimpft!“ mit der Frage, was passiert, wenn ein Elternteil einer Impfung nicht zustimmt. Damals hatte der impfverweigernde Elternteil faktisch ein Vetorecht. Eine Impfung war somit nicht möglich. Nun hat das Bundesgericht in Bezug auf eine Masernimpfung anders entschieden. Eine Nichtimpfung stellt eine Kindeswohlgefährdung dar. Wenn sich die Eltern nicht einig sind, kann das Gericht oder die KESB über die Impfung entscheiden. Richtschnur sind die Empfehlungen des BAG.

Im Urteil des Bundesgerichts vom 16. Juni 2020 (5A_789/2019 = BGE 146 III 313) finden sich folgende Erwägungen:

3.3. Eine Impfung bezweckt, einen lang anhaltenden Schutz des Organismus vor übertragbaren Krankheiten zu erreichen, indem durch Verabreichung von Antigenen eines Krankheitserregers bei der geimpften Person eine Immunantwort ausgelöst, das heisst die Bildung von Antikörpern und antigenspezifischen T-Lymphozyten gegen den Zielerreger provoziert wird (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch Online; vgl. auch LISA HUG, Einwilligung in die Impfung – wenn sich Eltern und Kind nicht einig sind, 2015, S. 5, mit weiteren Hinweisen). Eine Kindesschutzmassnahme, die eine Schutzimpfung zum Gegenstand hat, ist nach dem Gesagten gerade nicht darauf angelegt, die betroffenen gesundheitlichen Belange des Kindes nur vorübergehend oder vorläufig zu regeln. Im Gegenteil soll das Kind mit einer (vollständigen) Impfung ein für allemal davor geschützt werden, sich mit dem Zielerreger anzustecken. (…)

6.2.4. Was den konkreten Fall angeht, ist vorab Folgendes klarzustellen: Der angefochtene Entscheid beruht auf einer Fehlüberlegung, soweit die Vorinstanz aus dem Fehlen eines gesetzlichen Impfobligatoriums den (Umkehr-) Schluss zieht, dass der Verzicht auf die Masernimpfung das Wohl der betroffenen Kinder (losgelöst von der konkreten Gefahr einer Epidemie oder eines auffällig gehäuften Auftretens der Infektionskrankheit in deren Wohngebiet) nicht gefährdet (vgl. E. 4.3). Ob das Wohl des Kindes im privatrechtlichen Sinn von Art. 307 Abs. 1 ZGB gefährdet ist, bestimmt sich allein nach Massgabe der privaten Situation des Kindes. Demgegenüber orientieren sich die Voraussetzungen, unter denen eine Impfung (auf eidgenössischer oder kantonaler Ebene) für obligatorisch erklärt werden kann, nicht an der individuellen Situation einer (minderjährigen) Einzelperson, sondern an der Gefährdung von Bevölkerungs- oder Personen gruppen (s. Art. 6 Abs. 2 Bst. d und Art. 22 des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen [Epidemiengesetz, EgG; SR 818.101]). So setzt die „besondere Lage“ (Art. 6 EpG), angesichts derer der Bundesrat eine Impfung für obligatorisch erklären kann (Art. 6 Abs. 2 Bst. d EpG), unter anderem voraus, dass wegen des Ausbruchs und der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit eine erhöhte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr, eine besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit oder schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft oder auf andere Lebensbereiche zu befürchten sind (Art. 6 Abs. 1 Abs. a Ziff. 1-3 EpG). Allein der Umstand, dass mit Bezug auf eine übertragbare Krankheit – insbesondere mangels einer erhöhten Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr – eine Impfung nicht für obligatorisch erklärt, sondern von der eidgenössischen Gesundheitsbehörde lediglich empfohlen wird, bedeutet nicht, dass es sich auch mit dem Kindeswohl verträgt, auf die Impfung gegen die fragliche Infektionskrankheit zu verzichten. In dieser Hinsicht übt das Kantonsgericht das ihm zustehende Ermessen bei der Prüfung der entsprechenden Kindesschutzmassnahme bundesrechtswidrig aus.

6.2.5. Entgegen der Meinung der Vorinstanz kann allein aus der (unbestrittenen) Erkenntnis, dass in der Umgebung des Wohnorts der Kinder weder eine Masernepidemie noch ein Masernausbruch besteht, auch nicht gefolgert werden, dass eine „abstrakte“ Gefahr einer Masernerkrankung keine Kindesschutzmassnahme rechtfertigt (E. 4.3). Die Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Gefährdung bzw. die (sinngemässe) Überlegung des Kantonsgerichts, dass eine rein hypothetische Gefährdung den Tatbestand von Art. 307 Abs. 1 ZGB nicht erfüllt (vgl. auch oben E. 6.2.2 sowie ROSCH/HAURI, a.a.O., S. 447; PFISTER PILLER, a.a.O., S. 92), eignet sich nicht zur Beurteilung der Frage, ob der Verzicht auf eine Impfung das Kindeswohl gefährdet. Schutzimpfungen sind naturgemäss darauf angelegt, bereits die abstrakte Möglichkeit einer Ansteckung mit der als gefährlich eingestuften Krankheit auszuschalten oder wenigstens auf ein Minimum zu reduzieren. Sie finden ihren Sinn und ihre Rechtfertigung gerade darin, dass der Einzelne das Risiko einer Erkrankung (und befürchtete Komplikationen oder Folgen der Krankheit) kaum noch zu beherrschen vermag und ein hinreichender Impfschutz möglicherweise nicht mehr rechtzeitig erreicht werden kann, wenn sich die Ansteckungsgefahr in Gestalt einer Epidemie oder eines Krankheitsausbruchs konkretisiert hat. Entsprechend kommt es mit Blick auf die Frage, ob der Verzicht auf die Impfung das Kindeswohl im Sinn von Art. 307 Abs. 1 ZGB gefährdet, auch nicht darauf an, dass die betroffenen Kinder „gesundheitlich vorbelastet“ sind und aus diesem Grund „erhöhten gesundheitlichen Risiken“ ausgesetzt wären, wie die Vorinstanz argumentiert.

6.2.6. Wie die vorigen Erwägungen zeigen, vermag die Art und Weise, wie die Vorinstanz in Ausübung ihres Ermessens eine Gefährdung des Kindeswohls verneint, nicht zu überzeugen. Wer losgelöst von einer besonderen Zwangslage auf den Impfschutz für seine minderjährigen Kinder verzichtet, setzt diese zwar nicht unmittelbar den gesundheitlichen Risiken aus, die mit einer Masernerkrankung verbunden wären. Er nimmt aber jedenfalls die Unwägbarkeiten in Kauf, die eine konkrete Gefahrenlage für seine (gesunden) Kinder mit sich bringt. Gemäss den Informationen der Fachbehörden sind Masern eine hochansteckende Krankheit. Infizierte Personen übertragen Masernviren bereits vor Auftreten des typischen Hautausschlags während der Prodromalphase mit nur milden, unspezifischen Erkältungssymptomen. Masern haben bei praktisch allen Erkrankten eine ausgeprägte Schwächung der zellulären Immunität zur Folge. Diese temporäre Schwächung des Immunsystems ist so ausgeprägt und anhaltend, dass bei Kindern während zwei bis drei Jahren nach einer Masernerkrankung eine erhöhte Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten insgesamt beobachtet wurde. In rund 10 % der Fälle führen Masern zu verschiedenen, teils schweren Komplikationen, wie etwa einer akuten Mittelohrenentzündung (7-9 % der Erkrankten) oder einer Lungenentzündung (1-6 % der Erkrankten). Fieberkrämpfe sind häufig. Eine akute Enzephalitis tritt bei 1-2 pro 1000 Fällen auf. Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine unheilbare, stets letale Spätkomplikation (s. Bundesamt für Gesundheit und Eidgenössische Kommission für Impffragen, Richtlinien und Empfehlungen, Empfehlungen zur Prävention von Masern, Mumps und Röteln, März 2019, S. 5 und 7 f. mit zahlreichen Hinweisen; s. auch TARR/GALLMANN/HEININGER, Masern in der Schweiz, Erkennung und Impfberatung, in: Schweiz Med Forum, 2008, S. 868 ff.).

Angesichts dieser gesundheitlichen Risiken und Gefahren, denen ein Kind ohne Impfschutz gegen Masern ausgesetzt ist, erträgt die Frage, ob eine Masernimpfung durchzuführen ist oder nicht, unter den Eltern keine Pattsituation. Dies ergibt sich aus der besonderen Stellung, die dem Schutz der Gesundheit des Kindes als Grundvoraussetzung für eine möglichst gute Entwicklung zukommt (E. 6.2.3). Können sich die sorgeberechtigten Eltern über diese Massnahme zum Schutz der Gesundheit des Kindes nicht einigen, liegt mithin ein Anwendungsfall von Art. 307 Abs. 1 ZGB vor. Das bedeutet, dass die zuständige Behörde berufen ist, in dieser Frage anstelle der Eltern zu entscheiden. Dabei hat sie in pflichtgemässer Ausübung ihres Ermessens alle für die Beurteilung wesentlichen Elemente in Betracht zu ziehen. Empfiehlt das BAG als fachkompetente eidgenössische Behörde die Durchführung der Masernimpfung, so soll diese Empfehlung für den Entscheid der Behörde Richtschnur sein. Eine Abweichung davon ist nur dort am Platz, wo sich die Masernimpfung aufgrund der besonderen Umstände des konkreten Falles nicht mit dem Kindeswohl verträgt. Allein die vorinstanzliche Feststellung, dass die aktuell grössten Masernausbrüche nicht die Wohnregion der Kinder der Parteien betreffen, schliesst die beschriebene Gefährdung des Kindeswohls nicht aus. Entgegen der Beurteilung des Kantonsgerichts ist die behördliche Anordnung der Masernimpfung als Kindesschutzmassnahme deshalb grundsätzlich angezeigt.

7. Im Ergebnis erweist sich die Beschwerde als begründet. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben. Die Sache ist zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Die Vorinstanz wird in pflichtgemässer Ausübung des ihr zustehenden Ermessens insbesondere zu prüfen haben, ob spezielle, den betroffenen minderjährigen Kindern eigene Gründe gegen die Masernimpfung sprechen bzw. die Durchführung dieser Massnahme als mit dem Kindeswohl unvereinbar erscheinen lassen. (…)