Aussage und autosuggestive Prozesse

Das Bundesgericht ging in seinem Urteil vom 10. September 2020 (6B_1034/2019) von folgendem Sachverhalt aus:

A. Das Jugendgericht Baden erklärte A. am 12. Dezember 2017 der sexuellen Nötigung schuldig. Es bestrafte ihn mit einer persönlichen Leistung von 5 Tagen, deren Vollzug es bedingt aufschob. Die Zivilklage von B. verwies es auf den Zivilweg.

B. Gegen das Urteil des Jugendgerichts erhob A. Berufung. Das Obergericht des Kantons Aargau wies diese am 17. Mai 2019 ab.

Der Beschuldigte verlangte den psychiatrischen Austrittsbericht der Geschädigten, damit deren belastende Aussagen richtig gewürdigt werden können. Da ihm die Aargauer Justiz dies verwehrte, hob das Bundesgericht das Urteil der Vorinstanz wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs auf und wies die Sache an diese zur Neuentscheidung zurück:

2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe seinen Antrag, den Austrittsbericht des Aufenthalts der Beschwerdegegnerin 2 in der Psychiatrischen Klinik Königsfelden einzuholen, zu Unrecht abgelehnt. Er macht geltend, verschiedene psychiatrische Erkrankungen seien geeignet, einen Einfluss auf die Aussagequalität zu haben. Die Beschwerdegegnerin 2 habe anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung gesagt, dass sie Flashbacks habe und bei Erinnerungsfetzen nicht mehr unterscheiden könne, was von damals und was aktuell die Realität sei. Sie schildere damit Umstände, die geeignet seien, ihre Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit zu beeinträchtigen (Beschwerde, S. 31 f.).

Die Vorinstanz erwägt, es sei nicht ersichtlich, was der Beschwerdeführer aus dem Austrittsbericht herleiten wolle. Es würden keine Indizien dafür bestehen, dass die Beschwerdegegnerin 2 wegen einer ernsthaften geistigen Störung oder sonstiger Umstände in ihrer Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit beeinträchtigt und zur wahrheitsgemässen Aussage nicht fähig oder nicht willens sein sollte. Die Beschwerdegegnerin 2 habe anlässlich der Berufungsverhandlung selbst ausgeführt, dass bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden sei, mit den Aspekten die dazu gehören würden: Depression, Angst und Panikattacken (Urteil, S. 22).
(…)
2.2.2. Autosuggestive Prozesse haben – nach der Literatur – ihren Ausgangspunkt häufig in einem schlechten psychischen Befinden des Betroffenen. Oft besteht das Bedürfnis, eine Erklärung für die eigenen Beschwerden zu finden. Vermeintliche Erklärungen, bei denen erkennbare äussere Umstände oder – wie dies bei Sexualdelikten der Fall ist – schuldige Dritte identifiziert werden, können in dieser Situation der Unsicherheit erleichternd wirken (RENATE VOLBERT, Suggestion, in: Ludewig/Baumer/Tavor [Hrsg.], Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, 2017, S. 413 ff., 418). Erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen unterscheiden sich nicht zwingend bezüglich ihrer Qualität, jedoch in ihrem Verlauf, weshalb eine Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung notwendig ist (LUDEWIG/BAUMER/TAVOR, Einführung in die Aussagepsychologie, in: Ludewig/Baumer/Tavor [Hrsg.], Aussagepsychologie für die Rechtspraxis, 2017, S. 17 ff., 76). Liegen suggestive Bedingungen vor, ist zu prüfen, ob auch die Erstaussage durch diese beeinflusst worden ist oder ob suggestive Befragungen erst als Reaktion auf eine erste Aussage erfolgten. Lässt sich in letzterem Fall keine wesentliche Veränderung der Aussage feststellen, kann gegebenenfalls ein Erlebnisbezug substantiiert werden. Lagen hingegen gravierende suggestive Bedingungen bereits vor der Erstbekundung vor, wird eine Aussage nicht zu substantiieren sein; eine merkmalorientierte Inhaltsanalyse ist in diesem Fall überflüssig (VOLBERT, a.a.O, S. 423 f.).

Die Beschwerdegegnerin 2 erstatte am 1. April 2015 Anzeige für eine Straftat, die im August 2008 stattgefunden haben soll. Über den angeblichen Übergriff redete sie aber bereits ab dem Jahr 2012 mit mindestens vier Personen. Sie befand sich in psychologischer Behandlung und hielt sich in einer psychiatrischen Klinik auf. Darüber hinaus berichtete sie selber, dass sie Flashbacks habe und bei Erinnerungsfetzen nicht mehr unterscheiden könne, was von damals und was aktuell die Realität sei (Akten Bezirksgericht, pag. 39). Die Frage einer allfälligen (Auto-) Suggestion kann unter diesen Umständen nicht offenbleiben.

Der angefochtene Entscheid entbehrt einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob suggestive Umstände bestanden, welche das Aussageverhalten der Beschwerdegegnerin 2 allenfalls beeinflusst haben könnten. Der Antrag, den Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik Königsfelden einzuholen, stand im Zusammenhang mit dieser Frage, weshalb die Vorinstanz ihn nicht ablehnen durfte, ohne den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zu verletzen. Bei der Aussage der Beschwerdegegnerin 2, sie leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich – wie der Beschwerdeführer zutreffend rügt – um eine blosse Parteibehauptung. Der angefochtene Entscheid ist bereits aus diesem Grund aufzuheben, womit es sich erübrigt, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen.

Dieses Urteil zeigt exemplarisch auf, dass man auf Aussagen von Geschädigten oder Zeugen nicht einfach unkritisch abstellen und diese wortwörtlich übernehmen kann. Vielmehr bedarf es einer Würdigung der Aussagen, wobei insbesondere deren generelle Glaubhaftigkeit und die Glaubwürdigkeit der Geschädigten oder Zeugen zu bewerten sind.