Gemäss Blick vom 9.11.2020 sollen konservative Kreise im Ständerat versuchen, die Vorlage „Ehe für alle“ zu bodigen, indem sie behaupten, dass eine Grundlage in der Bundesverfassung notwendig sei. Dies bedeutet, dass eine obligatorische Abstimmung mit Volks- und Ständemehr nötig wäre. Zu dieser Frage soll es ein ominöses Geheimgutachten geben.
Meines Erachtens ist ganz klar die richtige Antwort, dass es für die Einführung der Ehe für alle, also die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare, keine Grundlage in der Bundesverfassung braucht.
Im Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 30. August 2019 ist Folgendes zu lesen:
2.2 Normstufe: Verfassung oder Gesetz
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Regelung der Ehe ergibt sich aus der allgemeinen Zivilrechtskompetenz (Art.122 der Schweizerischen Bundesverfassung [BV]). Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob der in Artikel 14 BV (Grundrecht auf Ehe) verwendete verfassungsmässige Ehebegriff den Bundes(zivil)gesetzgeber in seiner Tätigkeit einschränkt. In einem solchen Fall wäre zuerst eine Verfassungsänderung erforderlich, bevor das Rechtsinstitut der Ehe durch ein Bundesgesetz für Personen gleichen Geschlechts geöffnet werden könnte.
Um diese Frage zu klären, hat der Kommissionspräsident das BJ beauftragt, ein Gutachten zur Frage zu erstellen, ob für die Umsetzung der Initiative eine Verfassungsänderung erforderlich ist oder ob eine Umsetzung auch lediglich auf Gesetzesstufe zulässig wäre. Das BJ kommt in seinem Gutachten vom 7. Juli 2016 zum Schluss, dass «der Gesetzgeber durch Artikel 14 BV nicht daran gehindert [wird], sich auf seine zivilrechtliche Gesetzgebungskompetenz zu stützen, um das Rechtsinstitut der Ehe für Personen gleichen Geschlechts zu öffnen», obwohl sich gleichgeschlechtliche Paare heute nicht auf Artikel14 BV stützen können, um ein Recht auf Ehe geltend zu machen. Es ist somit rechtlich möglich, die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts auf dem Wege der Gesetzesänderung vorzunehmen; eine Revision der Verfassung ist dafür nicht erforderlich.
Gestützt auf dieses Gutachten hat die Kommission entschieden, die Öffnung der Ehe auf dem Wege der Gesetzesänderung vorzunehmen.
Das Bundesamt für Justiz führte in seiner Auslegeordnung betreffend die Auswirkungen der Öffnung der Ehe in den verschiedenen Rechtsbereichen vom 27. März 2018 folgendes aus:
5.1 Normstufe für die Öffnung des Rechtsinstituts Ehe: Verfassung oder Gesetz?
Ob eine Öffnung des Rechtsinstituts der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare auf Gesetzesstufe und ohne Verfassungsänderung erfolgen kann, wird in der Lehre kontrovers diskutiert. Das BJ kommt in seinem Gutachten zu Handen der RK-N zum Schluss, dass «der Gesetzgeber durch Artikel 14 BV nicht daran gehindert [wird], sich auf seine zivilrechtliche Gesetzgebungskompetenz zu stützen, um das Rechtsinstitut der Ehe für Personen gleichen Geschlechts zu öffnen». Somit ist es möglich, die Öffnung der Ehe für Personen des gleichen Geschlechts auf dem Wege der Gesetzesänderung vorzunehmen; eine Revision der Verfassung ist dafür nicht erforderlich. Dadurch wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass aus politischen Gründen der Weg einer Verfassungsänderung beschritten wird. Eine Gesetzesrevision unterläge dem fakultativen Referendum (Art.141 BV), währenddessen eine Anpassung der Verfassung obligatorisch Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet werden muss (Art. 140 Abs. 1 Bst. a und Art. 142 Abs. 2 BV).
Im Detail erörtert das Bundesamt für Justiz die Frage in seinem Gutachten „Ehe für alle – Fragen zur Verfassungsmässigkeit“ vom 7. Juli 2016.
Es ist offensichtlich, dass der Standpunkt des Bundesamtes für Justiz höher zu werden ist als Ausführungen eines ominösen Geheimgutachtens. Damit ist es angezeigt, dass der Ständerat, wie auch der Nationalrat, sich auf das Gutachten des Bundesamtes für Justiz stützt.
Schliesslich ist noch darauf hinzuweisen, dass das Bundesgericht Bundesgesetze nicht auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüfen kann (Art. 190 BV). Selbst wenn die Ehe für alle eine Grundlage in der Bundesverfassung brauchen würde, könnte das Bundesgericht einen Entscheid der Bundesversammlung (oder des Volkes) nicht umstossen. Offensichtlich ist die Einführung der Ehe für alle vor allem ein politischer Entscheid.
Nachtrag 5.1.2021
Es geht also doch ohne Verfassungsänderung! Mit der ZGB-Änderung vom 18.12.2020 wird die Ehe für alle eingeführt. Die Referendumsfrist läuft bis zum 10.4.2021. Mit einem erfolgreichen Referendum ist nicht zu rechnen. Inkrafttreten wohl auf den 1.1.2022.