Zunächst muss zwischen Impfpflicht (= Impfobligatorium) und Impfzwang unterschieden werden. Das Impfobligatorium verpflichtet die Bürger zur Vornahme eine Impfung. Die Nichtvornahme eine Impfung kann allenfalls mit einer Busse geahndet werden. Ferner können auch weitere Nachteile an eine unterlassene Impfung geknüpft werden (z.B. Schulausschluss). In der Schweiz gibt es dagegen keine gesetzliche Grundlage, um eine Impfung mit physischem Zwang vorzunehmen. Für kantonale Impfobligatorien ist der Impfzwang sogar ausdrücklich ausgeschlossen (Art 38 Abs. 3 Satz 2 EpV).
Bereits in einem Urteil vom 7. November 1973 (BGE 99 Ia 747), also noch unter Geltung der alten Bundesverfassung und vor Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention, befasste sich das Bundesgericht mit einer obligatorischen Impfung gegen Diphterie.
Sachverhalt:
A. Das Gesetz über das Waadtländer Gesundheitswesen (LOS) vom 9. Dezember 1952, geändert 1957 und 1963, schreibt die Impfung von Kindern gegen Pocken und Diphtherie vor (Art. 115). In Bezug auf die letztgenannte Impfung sieht Artikel 115 Abs. 2 und 3 Folgendes vor:
„Die Impfung gegen Diphtherie ist obligatorisch. Sie muss nach dem dritten Lebensmonat und so schnell wie möglich durchgeführt werden. Zwischen den Impfungen gegen Pocken muss jedoch ein Abstand von mindestens 6 Wochen liegen.
Eine dritte, so genannte „Auffrischung“-Diphtherie-Injektion erhalten Kinder bei der Einschulung, wenn sie bereits in jungen Jahren geimpft wurden. Wenn sie noch nicht geimpft sind, wird zu diesem Zeitpunkt eine Grundimmunisierung durchgeführt.“
Die Verpflichtung, das Kind rechtzeitig impfen zu lassen, obliegt dem gesetzlichen Vertreter des Kindes (Art. 116 LOS). Gemäss Artikel 117 LOS darf kein Kind in öffentliche und private Schulen oder andere Bildungseinrichtungen aufgenommen werden, wenn es nicht eine Bescheinigung vorlegt, aus der hervorgeht, dass es gegen Diphtherie geimpft wurde; das Departement kann jedoch Ausnahmen gewähren. Wer gegen die Bestimmungen des Gesetzes verstösst, wird mit einer Busse von 10 bis 10’000 Franken bestraft (Art. 122 LOS).
Das Dekret des Staatsrats vom 4. Dezember 1962 über Impfungen gegen Pocken und Diphtherie enthält ähnliche Bestimmungen wie die Artikel 1, 6, 7 und 25. Der erste Absatz von Artikel 7 gibt den Wortlaut von Artikel 117 LOS wieder und der zweite Absatz benennt die für die Überwachung dieser Bestimmung zuständigen Behörden.
B. Auf Verlangen des Gesundheitsamtes legte Pierre-André Etienne am 5. Oktober 1970 eine Bescheinigung von Dr. Vulliemin vor, dem Arzt, der seinen am 27. Juni 1966 geborenen Sohn Yves behandelt hatte. Der Arzt wies in diesem Attest darauf hin, dass alle nicht dringenden Impfungen, insbesondere die Diphtherieimpfung, aufgeschoben werden müssen, und vermerkte, dass er die Eltern auf die Verpflichtung hingewiesen habe, diese Impfung in ein oder zwei Jahren durchführen zu lassen. Am 8. Oktober 1970 gewährte der öffentliche Gesundheitsdienst Etienne einen Aufschub bis zum 30. Oktober 1971, um seinen Sohn impfen zu lassen. Bei einem erneuten Anruf im November 1971 teilte Etienne der betreffenden Amt mit, ohne ein neues ärztliches Attest vorzulegen, dass er seinen Sohn nicht gegen Diphtherie impfen lassen würde.
Am 25. Januar 1972 verhängte der Präfekt von Lausanne nach einer Anzeige des Gesundheitsamtes eine Geldstrafe von 30 Franken gegen Etienne wegen Verstosses gegen die Artikel 115 bis 117 LOS und die Artikel 1 und 7 des ACE vom 4. Dezember 1962. Nachdem Etienne Einspruch eingelegt hatte, verwies ihn der Informationsrichter von Lausanne an das Polizeigericht des Bezirks Lausanne, das ihn am 1. November 1972 zu einer Geldstrafe von 10 Fr. verurteilte, weil er es unterlassen hatte, sein Kind gegen Diphtherie zu impfen.
Persönliche Freiheit:
2. Die persönliche Freiheit, ein ungeschriebenes Verfassungsrecht der Eidgenossenschaft, garantiert insbesondere das Recht des Bürgers auf körperliche Unversehrtheit (BGE 91 I 34 Erw. 2, 89 I 98 Erw. 4). Obwohl sie zu den unverzichtbaren und unveräusserlichen Verfassungsrechten zählt, ist die persönliche Freiheit jedoch ebenso wenig absolut wie die anderen Freiheitsrechte. Es kann durch die Erfordernisse des öffentlichen Interesses eingeschränkt werden; solche Einschränkungen müssen jedoch auf einer Rechtsgrundlage beruhen, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren und dürfen nicht so weit gehen, dass das Recht seiner Substanz beraubt wird (BGE 99 Ia 266 ff. und die zitierten Urteile 97 I 50 und 842).
Im Hinblick auf die körperliche Freiheit akzeptiert die Rechtsprechung, dass eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit auch dann vorliegen kann, wenn keine gravierende Verletzung verursacht wurde. Dies ist bei einer Blutuntersuchung der Fall, die in der Regel wenig Schmerzen verursacht und die Gesundheit der Person, die Gegenstand der Untersuchung ist, nicht gefährdet (BGE 99 Ia 412, Rn. 4, 91 I 34, 89 I 98 f., 82 I 238). Dies gilt auch für die Impfung von Kindern gegen Pocken und Diphtherie, die in mehreren Schweizer Kantonen zur Pflicht gemacht wurde (BERSIER, La liberté personnelle, Dissertation, Lausanne 1968, S. 43 ff. und 76; SCHNETZLER, L’intervention pratiquée contre le gré du patient par les médecins d’un établissement hospitalier public, RDAF 1967 S. 63).
Öffentliches Interesse:
3. Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen einer Gesetzesgrundlage im vorliegenden Fall nicht, macht aber geltend, dass die gesetzliche Pflicht, Kinder gegen Diphtherie zu impfen, nicht durch ein ausreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sei. Er behauptet, dass es in der Schweiz seit 40 Jahren keine Diphtheriefälle mehr gegeben habe und dass es keinen statistischen Unterschied zwischen der Bevölkerung von Kantonen gibt, wo die Impfung obligatorisch ist, und von Einwohnern von Kantonen, die keine Impfung vorschreiben. Ausserdem sei die Impfung in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten abgeschafft worden und in den Niederlanden fakultativ. Der Beschwerdeführer komme zu dem Schluss, dass die Zwangsimpfung gegen Diphtherie nicht mehr gerechtfertigt sei und einen unverhältnissmässigen Eingriff in die persönliche Freiheit darstelle.
a) Um zu beurteilen, ob diese Vorwürfe begründet sind, sei auf den Bericht des Direktors des Bundesamtes für öffentliche Gesundheit vom 25. Juli 1973 verwiesen.
In diesem Bericht wird zunächst festgestellt, dass die dem Dossier des Beschwerdeführers beigefügten Veröffentlichungen zum grössten Teil alt seien oder sich auf alte Fakten beziehen, die zum Teil bis zum Anfang der Ära von Pasteur zurückreichen, und dass sie zahlreiche Behauptungen enthalten, für die man vergeblich objektive wissenschaftliche Grundlagen gesucht habe.
Zur Diphtherie wies er darauf hin, dass der verursachende Erreger – ein Bakterium – noch in allen Ländern der Welt zu finden sei, im Gegensatz zu den Pocken, deren verursachender Erreger ein Virus sei, der dank der Impfung nur noch in wenigen Ländern Asiens und Afrikas dauerhaft zu finden sei. Obwohl die Diphtherie in der Schweiz derzeit rückläufig sei, sei das Bakterium immer noch vorhanden und stelle eine noch grössere Gefahr für die Gemeinschaft dar, wenn die Bevölkerung nicht ausreichend geimpft sei. Obwohl die Diphtherieimpfung einen wesentlichen Beitrag zum Rückgang der Krankheit geleistet habe, sei es unzutreffend zu behaupten, dass die Diphtherie in den letzten 40 Jahren aus der Schweiz verschwunden ist. Die Statistiken von 1941 bis 1970 zeigen, dass die Diphtherie in der Schweiz in diesem Zeitraum stark zurückgegangen, aber nicht verschwunden sei. 1961 bis 1965 gab es durchschnittlich 35 Fälle pro Jahr, also 175 Fälle insgesamt, und 1966 bis 1970 durchschnittlich 13 Fälle pro Jahr, also 65 Fälle insgesamt. Darüber hinaus gebe es zyklische, saisonale oder sogar dekadische Schwankungen, die jederzeit die Gefahr eines Ausbruchs implizieren.
Andererseits vergleicht der Experte die Morbidität (Anzahl der an Diphtherie Erkrankten pro 100‘000 Einwohner) in den Kantonen, in denen die Impfung obligatorisch ist (Genf, Neuenburg, Waadt, Tessin, Freiburg) mit denen der Kantone, in denen dies nicht der Fall ist, für die Jahrzehnte 1950-1959 und 1960-1969. Er stellt fest, dass auf 10 Personen, die in der Gruppe der Kantone mit obligatorischer Impfung an Diphtherie erkrankt sind und in der Gruppe der Kantone mit fakultativer Impfung 17 bzw. 14 kommen, wobei die Einwohnerzahl in jeder Gruppe berücksichtigt wird. Er präzisiert weiter, dass es in der ersten Gruppe nicht nur ungeimpfte Kinder, sondern auch Personen gibt, deren Impfung alt und daher unzureichend sei. Und in der zweiten Gruppe gebe es eine gewisse Anzahl geimpfter Kinder, deren Umstände, dazu beitragen, den Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Kantonen abzuschwächen. Es sei überhaupt nicht überraschend, dass die letzten beiden Diphtherie-Epidemien in der Schweiz in Kantonen stattfanden, eine im Kanton Solothurn (13 Fälle) im Jahr 1966, die andere im Kanton Zürich (22 Fälle) im Jahr 1969, in denen die Impfung gegen Diphtherie nicht obligatorisch sei.
Der Experte weist auch darauf hin, dass der durch die Impfung gewährte Schutz zwar nicht absolut sei und mit der Zeit an Wirksamkeit abnehme, dass aber beobachtet wurde, dass eine Person, die an dieser Krankheit leidet, weniger wahrscheinlich daran stirbt, wenn sie geimpft ist. Er zitierte die Studien von Stuart in Grossbritannien, wonach eine Impfung das Risiko, an Diphtherie zu erkranken, um das 4-fache und das Risiko, daran zu sterben, um das 25-fache reduziert werde. In Deutschland wurden Reduzierungen des gleichen Risikos um das 4-fache und mehr als das 10-fache beobachtet. Der Experte betont ferner, dass es notwendig sei, einem recht hohen Anteil der Bevölkerung Immunität zu verleihen, um die kontinuierliche Übertragung des Diphtherie-Bazillus zwischen ungeimpfte Personen sehr schwierig zu machen. So liegt der Anteil der Kinder, die zu diesem Zweck geimpft werden müssen, unter den Bedingungen der angelsächsischen Länder bei mindestens 70 %.
Schliesslich stellt der Experte fest, dass mit der Zunahme von Auslandsreisen das Risiko von Epidemien deutlich steige.
b) Es ist zu prüfen, ob das öffentliche Interesse in Anbetracht des oben genannten Berichts die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, die die obligatorische Diphtherieimpfung darstellt, rechtfertigt.
In dem Bericht wurde hervorgehoben, dass die Diphtherie zwar allgemein zurückgegangen sei, das in allen Ländern der Welt gemeldete Vorkommen des Bakteriums aber immer noch eine ernste Gefahr für ungeimpfte oder unzureichend geimpfte Bevölkerungsgruppen darstelle, selbst in Ländern mit hoch entwickelten hygienischen Verhältnissen wie der Schweiz. In jedem Fall ist die Behauptung des Beschwerdeführers eindeutig falsch, dass es seit mehr als einer Generation keine Epidemie mehr gegeben habe.
Es ist richtig, dass die Impfung nicht absolut wirksam ist. Aber sie führt im Allgemeinen zu positiven Ergebnissen. Als vorbeugende Massnahme reduziert sie das Risiko, an Diphtherie zu erkranken. Wenn ein Kind an Diphtherie erkrankt, verringert eine Impfung die Wahrscheinlichkeit erheblich, an der Krankheit zu sterben.
Der Beschwerdeführer behauptet ferner, dass es keinen Unterschied in der Anzahl der Diphtheriefälle zwischen den Kantonen, die eine Impfpflicht eingeführt haben, und denen, die dies nicht getan haben, gebe. Auch diese Aussage ist unzutreffend, wie der Bericht des Experten zeigt. Die Zahl der Fälle ist in den Kantonen, in denen die Impfung fakultativ ist, immer noch deutlich höher, auch wenn die Zahl der in diesen Kantonen geimpften Kinder in die Berechnung mit einbezogen wird, was die Statistik für diese Kantone begünstigt. Es ist auf jeden Fall symptomatisch, dass die letzten Epidemien in den Kantonen aufgetreten sind, in denen keine Impfpflicht besteht (Zürich und Solothurn).
Anzumerken ist schliesslich, dass Diphtherie nach wie vor eine gefürchtete Infektionskrankheit ist, trotz ihres sehr deutlichen Rückgangs in den letzten Jahrzehnten, der auch auf die Impfung zurückzuführen ist. Es darf nicht übersehen werden, dass das verursachende Bakterium noch in allen Ländern vorhanden ist und das Auftreten von zukünftigen Epidemien nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. Es ist daher notwendig, wachsam zu bleiben und die Bevölkerung, insbesondere die Kinder, durch geeignete Mittel gegen solche Ansteckungen zu schützen, von denen die Impfung (antitoxisches Serum, das mit dem Toxin vermischt wird) beim gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft zweifellos die wirksamste ist. Die Bekämpfung solcher Diphtherie-Epidemien durch obligatorische Schutzimpfungen ist daher eine wichtige Massnahme zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und liegt unter diesem Gesichtspunkt eindeutig im öffentlichen Interesse.
Verhältnismässigkeit:
c) Die Frage ist noch unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit zu prüfen. Es kann in diesem Zusammenhang nicht behauptet werden, dass die Impfung ein Mittel ist, das über das hinausgeht, was zum Schutz der öffentlichen Gesundheit notwendig ist, dass sie mit ähnlichen Ergebnissen durch weniger strenge Massnahmen ersetzt werden könnte und dass sie daher kein verhältnismässiges Mittel zum angestrebten Zweck darstellt.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Impfung gegen Diphtherie im Allgemeinen harmlos und nicht sehr schmerzhaft ist. Selbst wenn sie eine nicht ausreichend resorbierte Narbe hinterlassen würde, könnte man nicht von einer ernsthaften Verletzung des Körpers sprechen. Darüber hinaus erlauben die kantonalen Behörden bei begründeter medizinischer Kontraindikation Ausnahmen vom Prinzip der Impfpflicht. Es handelt sich also um eine durchaus zulässige Einschränkung der persönlichen Freiheit, die in der Sache nicht schwerwiegend beeinträchtigt wird. Darüber hinaus ist sie angesichts des übergeordneten Interesses des Schutzes der öffentlichen Gesundheit eine angemessene Massnahme. Der Experte ist in dieser Hinsicht eindeutig, wenn er betont, dass die Gefahr einer Epidemie nicht gebannt sei und dass sie eine Agglomeration oder Region jederzeit bedrohen könne, zumal die derzeitige intensive Durchmischung der Bevölkerung ein Faktor ist, der das Risiko von Epidemien erhöht.
Diese Elemente sind entscheidend. Sie führen zu der Schlussfolgerung, selbst wenn die Impfpflicht nicht als absolute Notwendigkeit angesehen werden kann, dennoch eine Massnahme darstellt, mit der des angestrebten Ziels des öffentlichen Interesses erreicht werden kann. Der vom Waadtländer Gesetzgeber angestrebte Zweck, nämlich ein besserer Schutz der öffentlichen Gesundheit, überwiegt eindeutig das Opfer, das den Bürgern durch die Verpflichtung, ihre Kinder impfen zu lassen, auferlegt wird. Der auf eine angebliche Verletzung der persönlichen Freiheit gestützte Klagegrund ist daher unbegründet.
d) Die vom Beschwerdeführer am 14. September 1973 eingereichten Unterlagen über die Feststellung des Berichts des Bundesamtes für öffentliche Gesundheit lassen keinen anderen Schluss zu. Die Kontroverse in medizinischen Kreisen über die Wirksamkeit der Diphtherieimpfung und ihre Sicherheit reicht nicht aus, um die kritisierten Bestimmungen des Waadtländer Gesetzes für verfassungswidrig zu erklären.
Das Urteil ist im Original auf Französisch. Die Übersetzung ist von mir, mit Hilfe einer Grundübersetzung von DeepL.
Heute gehört die Diphtherieimpfung zu den empfohlenen Basisimpfungen gemäss dem Schweizerischen Impfplan des Bundesamtes für Gesundheit.
Im Gegensatz zum obigen Urteil wird heute die persönliche Freiheit ausdrücklich durch die Bundesverfassung garantiert:
Art. 10 Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit
(…)
2 Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.
(…)
Wie jedes Grundrecht ist die persönliche Freiheit nicht absolut und kann eingeschränkt werden:
Art. 36 Einschränkungen von Grundrechten
1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
2 Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.
3 Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.
4 Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.
Anzumerken ist, dass Freiheitsrechte das Verhältnis zwischen Bürger und Staat und in der Regel nicht das Verhältnis zwischen Privaten betrifft. So kann zum Beispiel ein Arbeitgeber von seinen Arbeitnehmern verlangen, dass sie sich impfen lassen müssen, wenn das aus betrieblichen Gründen notwendig ist. Der Arbeitnehmer hat Weisungen des Arbeitgebers zu befolgen (Art. 321d OR). Zudem ist denkbar, das Airlines von Passagieren eine Corona-Impfung verlangen, allerdings muss die diesbezügliche Rechtslage genauer geprüft werden.
Auch sonst haben sich die gesetzlichen Grundlagen erheblich verändert. Heute gilt gemäss dem Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) vom 28. September 2012 (SR 818.101) Folgendes:
Art. 22 EpG
Obligatorische Impfungen
Die Kantone können Impfungen von gefährdeten Bevölkerungsgruppen, von besonders exponierten Personen und von Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären, sofern eine erhebliche Gefahr besteht.
Diese Bestimmung wird durch die Verordnung über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemienverordnung, EpV) vom 29. April 2015 (SR 818.101.1) konkretisiert:
Art. 38 EpV
Obligatorische Impfungen
1 Zur Feststellung, ob eine erhebliche Gefahr besteht (Art. 22 EpG), beurteilen die zuständigen kantonalen Behörden folgende Faktoren:
a. Schweregrad einer möglichen Erkrankung sowie das Risiko einer Weiterverbreitung der Krankheit;
b. Gefährdung besonders verletzbarer Personen;
c. epidemiologische Situation auf kantonaler, nationaler und internationaler Ebene unter Einbezug des BAG;
d. zu erwartende Wirksamkeit eines allfälligen Impfobligatoriums;
e. Eignung und Wirksamkeit anderer Massnahmen zur Eindämmung der Gesundheitsgefahr.
2 Ein Impfobligatorium für Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, insbesondere in Gesundheitseinrichtungen, ist auf diejenigen Bereiche zu beschränken, in welchen das Risiko einer Weiterverbreitung der Krankheit erhöht ist oder in welchen besonders verletzbare Personen gefährdet sind.
3 Ein Impfobligatorium muss zeitlich befristet sein. Die Impfung darf nicht mittels physischem Zwang erfolgen.
Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine gesetzliche Konkretisierung der Voraussetzungen der Einschränkung der persönlichen Freiheit.
Weiter sieht das Epidemiengesetz vor, dass der Bundesrat in der besonderen Lage die Impfpflicht vorsehen kann:
Art. 6 EpG
Besondere Lage
1 Eine besondere Lage liegt vor, wenn:
a. die ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen, und eine der folgenden Gefahren besteht:
1. eine erhöhte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr,
2. eine besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit,
3. schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft oder auf andere Lebensbereiche;
b. die Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgestellt hat, dass eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite besteht und durch diese in der Schweiz eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht.
2 Der Bundesrat kann nach Anhörung der Kantone folgende Massnahmen anordnen:
(…)
d. Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären.
Eine besondere Lage liegt im Moment wegen der Corona-Pandemie vor. Aktuell gibt es allerdings kein Entscheid für eine Coronaimpfung, vielmehr soll die Impfung freiwillig sein.
In der Botschaft vom 3. Dezember 2010 äusserte sich der Bundesrat folgendermassen:
Obligatorische Impfungen stellen einen Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) dar. Solche Grundrechtsbeschränkungen sind nach Artikel 36 BV nur zulässig, wenn sie (1) auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, (2) durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt sind (bei hoch ansteckenden Krankheiten mit potenziell sehr schwerem Verlauf) und (3) verhältnismässig sind. Ein Impfobligatorium für bestimmte Personenkreise könnte sich bei einer schweren, sich rasch verbreitenden und in vielen Fällen tödlich endenden Infektionskrankheit aufdrängen. Diese strategische Option ist für den Fall vorbehalten, dass das Ziel mit anderen Massnahmen nicht erreicht werden kann. Impfobligatorien, z. B. bei Schuleintritt, waren bis vor Kurzem noch in vielen kantonalen Gesetzen vorhanden. Auch in den USA gilt ein Impfobligatorium für den Schulbesuch.
Auch wenn das Gesetz die Möglichkeit der Impfpflicht vorsieht, hat diese heute keine grosse Bedeutung. Die Impfpflicht ist nicht gerade die beste Methode, um die Impfquote zu erhöhen. Gerade Impfskeptiker lassen sich durch eine Impfpflicht nicht beeindrucken. Interessanterweise sieht das Epidemiengesetz denn auch keine Strafbestimmung vor, wenn jemand sich trotz Impfobligatorium nicht impfen lassen will. Allerdings kann die zuständige Behörde eine Impfung in Bezug auf eine konkrete Person anordnen und damit verbunden eine Bestrafung wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung (Art. 292 SGB) androhen.
Heute steht mehr die behördliche Information und behördliche Empfehlungen im Zentrum:
Art. 9 EpG
Information
1 Das BAG informiert die Öffentlichkeit, bestimmte Personengruppen sowie Behörden und Fachpersonen über die Gefahren übertragbarer Krankheiten und über die Möglichkeiten zu deren Verhütung und Bekämpfung.
2 Es veröffentlicht regelmässig Zusammenstellungen und Analysen über die Art, das Auftreten, die Ursachen und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten.
3 Es veröffentlicht Empfehlungen zu Massnahmen gegen übertragbare Krankheiten und zum Umgang mit Krankheitserregern und passt sie regelmässig dem aktuellen Stand der Wissenschaft an. Sind andere Bundesämter betroffen, so handelt das BAG im Einvernehmen mit diesen.
4 Das BAG und die zuständigen kantonalen Behörden koordinieren ihre Informationstätigkeit.
Art. 20 EpG
Nationaler Impfplan
1 Das BAG erarbeitet und veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Kommission für Impffragen Impfempfehlungen in Form eines nationalen Impfplans.
2 Ärztinnen, Ärzte und weitere Gesundheitsfachpersonen tragen im Rahmen ihrer Tätigkeit zur Umsetzung des nationalen Impfplans bei.
3 Sie informieren die von den Impfempfehlungen betroffenen Personen über den nationalen Impfplan.
Art. 32 EpV
Nationaler Impfplan
1 Der nationale Impfplan enthält Impfempfehlungen zum Schutz der Gesamtbevölkerung, bestimmter Personengruppen mit einem erhöhten Infektions-, Übertragungs- oder Komplikationsrisiko sowie zum Schutz einzelner Personen.
2 Die Impfempfehlungen des nationalen Impfplans:
a. beschreiben die Impfungen und Impfschemas und enthalten Informationen zum für die Durchführung der Impfung geeigneten Alter, zur Anzahl Impfdosen, zu den Zeitintervallen der Impfungen sowie zu Nachholimpfungen;
b. sind in verschiedene Kategorien von Impfungen unterteilt, namentlich:
1. empfohlene Basisimpfungen, die dem Schutz der individuellen und öffentlichen Gesundheit dienen,
2. empfohlene ergänzende Impfungen, die einen individuellen Schutz gegen definierte Gesundheitsrisiken bieten,
3. empfohlene Impfungen für Risikogruppen, für welche die Impfung als nutzbringend eingestuft wird.
3 Der nationale Impfplan wird regelmässig an neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Anforderungen der öffentlichen Gesundheit angepasst.
Art. 21 EpG
Förderung von Impfungen
1 Die Kantone fördern Impfungen, indem sie:
a. die von den Impfempfehlungen betroffenen Personen über den nationalen Impfplan informieren;
b. den Impfstatus von Kindern und Jugendlichen während der obligatorischen Schulzeit regelmässig überprüfen;
c. dafür sorgen, dass die von den Impfempfehlungen betroffenen Personen vollständig geimpft sind.
2 Sie können insbesondere:
a. Impfungen im Rahmen des Schulgesundheitsdienstes anbieten;
b. Impfungen unentgeltlich durchführen oder Impfstoffe unter dem Marktpreis abgeben.
Art. 36 EpV
Überprüfung des Impfstatus von Kindern und Jugendlichen
1 Die zuständigen kantonalen Behörden überprüfen den Impfstatus von Kindern und Jugendlichen mindestens zweimal, zu Beginn und gegen Ende der obligatorischen Schulzeit.
2 Sie empfehlen der gesetzlichen Vertretung von unvollständig geimpften Kindern die Impfung nach dem nationalen Impfplan. Im Falle von unvollständig geimpften Jugendlichen richten sie die Empfehlung an die betroffene Person oder an die gesetzliche Vertretung.
3 Sie verweisen diejenigen Personen, die sich für eine Impfung entscheiden beziehungsweise deren gesetzliche Vertretung eine solche verlangt, an eine geeignete Impfstelle oder bieten bei Bedarf die Impfung selber an. Sie stellen sicher, dass die Impfung mit allen vorgesehenen Dosen nach dem nationalen Impfplan erfolgen kann.
Eine fehlende Impfung kann schliesslich in anderen Bereichen negative Auswirkungen haben. Das Bundesgericht beschäftigte sich im Urteil vom 8. Juni 2020 (2C_395/2019) mit der Frage, ob es rechtmässig ist, wenn eine Schülerin wegen einer fehlenden Masernimpfung temporär vom Schulunterricht ausgeschlossen wird. Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Eltern ab.
Sachverhalt:
A. A. (2007) besuchte im Schuljahr 2016/2017 die vierte Klasse im Schulhaus D. in U. Am 3. Februar 2017 erkrankte eine Mitschülerin an Masern. In der Folge forderte die Kantonsärztin die Eltern von A. formlos auf, ihre Tochter bis zum 20. Februar 2017 nicht mehr in die Schule zu schicken, da sie nicht gegen Masern geimpft und noch nie an Masern erkrankt sei (7. Februar 2017). A. blieb krankheitsbedingt vom 7. bis 15. Februar 2017 dem Schulunterricht fern. Am 14. Februar 2017 meldete die X. ag, W., dem Kantonsarztamt, dass A. als eines von vier resp. fünf ungeimpften Kindern ihrer Klasse nicht an Masern erkrankt sei. Am 15. Februar 2017 forderten die Eltern von A. die Schulgemeinde U.-V. und das Gesundheitsdepartement auf, eine anfechtbare Verfügung zum befristeten Schulausschluss ihrer Tochter zu erlassen.
B. Mit Verfügung vom 16. Februar 2017 schloss die Kantonsärztin A. vom 7. bis 20. Februar 2017 (Winterferien vom 19. bis 26. Februar 2017) vom Besuch des Schulunterrichts aus. (…)
Ausschluss vom Schulunterricht:
2.1. Streitgegenstand bildet der befristete Ausschluss der Beschwerdeführerin aus der Schule, weil eine Mitschülerin von ihr an Masern erkrankte und sie selbst weder gegen Masern geimpft noch je an Masern erkrankt sei. Unbestritten sind Masern eine übertragbare Krankheit im Sinne des Epidemiengesetzes vom 28. September 2012 (EpG; SR 818.101; vgl dazu auch Botschaft zur Revision des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen [Epidemiengesetz, EpG] vom 3. Dezember 2010 [nachfolgend Botschaft EpG], BBl 2011 311, durchgehend, z.B. S. 324, 392, 427), das sich auf Art. 118 BV stützt. Auch wenn es sich um einen Schulausschluss handelt, ist deshalb nicht kantonales Schulrecht, welches sich an Art. 19 BV zu orientieren hätte, anwendbar, sondern Bundesrecht. Allerdings ist dieses Art. 19 BV-konform auszulegen. Der 1. Abschnitt des 5. Kapitels des Epidemiengesetzes regelt Massnahmen zum Schutz des Menschen vor übertragbaren Krankheiten gegenüber einzelnen Personen.
2.2. Nach Art. 38 Abs. 1 EpG kann einer Person, die krank, krankheitsverdächtig, angesteckt oder ansteckungsverdächtig ist oder Krankheitserreger ausscheidet, die Ausübung bestimmter Tätigkeiten oder ihres Berufs ganz oder teilweise untersagt werden. Daneben sieht der Gesetzgeber mildere (Art. 34 EpG) und auch strengere Massnahmen (Art. 35 und 37 EpG) vor (vgl. ANDREAS ZÜND/CHRISTOPH ERRASS, Pandemie – Justiz – Menschenrechte, ZSR Sondernummer 2020 [Pandemie und Recht], S. 69 ff., 84 mit Hinweisen). Zuständig sind nach Art. 31 Abs. 1 EpG die Kantone. Massnahmen nach Art. 34 ff. EpG dürfen nur angeordnet werden, wenn (a.) weniger einschneidende Massnahmen, um die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu verhindern, nicht ausreichen oder nicht geeignet sind, und (b.) die Massnahme dazu dient, eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit Dritter abzuwenden (Art. 30 Abs. 1 EpG). Nach Art. 30 Abs. 2 EpG muss die Massnahme erforderlich und zumutbar sein. Schliesslich dürfen die Massnahmen nur so lange dauern, wie es notwendig ist, um die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu verhindern und um eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit Dritter abzuwenden. Art. 30 und Art. 31 Abs. 4 EpG regeln insoweit das Verhältnismässigkeitsprinzip bei Massnahmen gegenüber einzelnen Personen.
2.3. Wesentliches Anliegen der Regelungen nach Art. 34 ff. EpG ist, dass eine Verbreitung einer übertragbaren Krankheit (in casu: Masern) zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung verhindert werden soll. Diese Massnahmen sind reaktiv, weshalb der Gesetzgeber die Verbreitung der Masern primär präventiv mit einer freiwilligen empfohlenen Impfung nach Art. 20 ff. EpG verhindern will (z.B. zweifache Impfung von Säuglingen im Alter von neun bzw. zwölf Monaten mit einem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln [vgl. BAG, Empfehlung zur Prävention von Masern, Mumps und Röteln, März 2019, S. 5 (nachfolgend: Empfehlung)]). Aus diesem Grund informiert das Bundesamt für Gesundheit u.a. die Öffentlichkeit über die Gefahren übertragbarer Krankheiten und über die Möglichkeit zu deren Verhütung und Bekämpfung (Art. 9 Abs. 1 EpG) sowie veröffentlicht es Empfehlungen zu Massnahmen gegen übertragbare Krankheiten und zum Umgang mit Krankheitserregern und passt sie regelmässig dem aktuellen Stand der Wissenschaft an (Art. 9 Abs. 3 EpG). Im Zusammenhang mit Impffragen veröffentlicht sie Impfempfehlungen in Form eines nationalen Impfplans (Art. 20 Abs. 1 EpG). Für den Umgang mit Masern hat das Bundesamt für Gesundheit die bereits erwähnte Empfehlung und die Richtlinien zur Bekämpfung von Masern und Masernausbrüchen (April 2013, Stand März 2019 [nachfolgend: Richtlinie]) verfasst. Empfehlungen sind staatliche Aussagen über die faktische Ratsamkeit bestimmter Verhaltensoptionen (BGE 144 II 233 E. 4.1 S. 236). Sie sind aussenwirksam und hier generell-abstrakt, da sie sich an eine Vielzahl von Personen richten und mehrere Sachverhalte betreffen (BGE 144 II 233 E. 4.1 S. 236; siehe zur Impfempfehlung ausdrücklich PIERRE TSCHANNEN, Systeme des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2008, Rz. 161). Die Richtlinien sind dagegen primär Verwaltungsverordnungen, welche für die richterliche Auslegung nicht bindend sind (BGE 143 II 297 E. 5.3.3 S. 320). Sofern diese eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen zulassen, nimmt das Bundesgericht darauf Bezug (BGE 142 V 425 E. 7.2 S. 434; 142 II 182 E. 2.3.3 S. 191).
2.4. Tritt ein Masernfall auf, so werden die Nichtgeimpften bei einer Exposition grundsätzlich vom Zugang zu Einrichtungen oder Tätigkeiten ausgeschlossen (Richtlinie S. 8, 9, 12, 13, 15, 17; Empfehlung S. 39). Allerdings kann von einem Ausschluss abgesehen werden, wenn der potentielle Überträger, d.h. der Nichtgeimpfte, innerhalb von 72 Stunden nach Erstexposition geimpft wird (sogenannte postexpositionelle MMR-Impfung). Dies sehen die Richtlinien und auch die Empfehlung für Expositionen ausserhalb des Haushalts, worunter auch die Schulen fallen, und im Haushalt vor (S. 9, 12, 13, 15, 17; siehe auch Empfehlung S. 39). Auch die in den Richtlinien besonders hervorgehobenen setting-spezifischen Massnahmen in Schulen heben ausdrücklich hervor, dass bei einer raschen Identifizierung der potentiellen Überträger fristgerecht die postexpositionelle Impfung angeboten werden könne (Ziff. 13.2 [S. 17]), was der Kanton St. Gallen in seinem Schreiben vom 7. Februar 2019 auch so kommuniziert hat (Art. 105 Abs. 2 BGG). Mit der postexpositionellen MMR-Impfung wird eine Weiterverbreitung des Masernvirus unterbunden. Auch die Gabe von Immunglobulin hat, wie sich der Richtlinie und der Empfehlung entnehmen lässt, die gleiche Wirkung. Wenn Personen innerhalb von sechs Tagen nach Erstexposition Immunglobulin erhalten haben, müssen sie nicht ausgeschlossen werden. Dies gilt sowohl für Expositionen ausserhalb des Haushalts als auch im Haushalt (vgl. Richtlinie, S. 8, 9, 13; Empfehlung, S. 39). So ist dies auch in der Informationsschrift „Masernelimination: Informationen für die Schulen“ des Bundesamtes für Gesundheit aufgenommen.
2.5. Die Gabe von Immunglobulin wird in der Richtlinie und in der Empfehlung primär für Personen mit einem erhöhten Risiko für Masernkomplikationen, d.h. Kleinkinder unter einem Jahr, schwangere Frauen oder immunsupprimierte Personen, vorgesehen (vgl. Richtlinie, S. 13 f.; Empfehlung, S. 39). Daneben finden sich in der Richtlinie und der Empfehlung allerdings auch Ausnahmefälle, wonach die Gabe von Immunglobuline nicht nur für Personen mit einem erhöhten Komplikationsrisiko vorgesehen sein kann: Zu nennen ist zunächst der Fall, wenn die Frist von 72 Stunden für eine postexpositionelle Impfung abgelaufen ist (Empfehlung, S. 39). Weitere Fälle betreffen Massnahmen im Luftverkehr (Richtlinie, S. 18 f.) oder der Ausschluss aus Gemeinschaftseinrichtungen (Richtlinie, S. 15). Auch in der Vernehmlassung sieht das Bundesamt für Gesundheit die Gabe von Immunglobulin nicht nur für Personen mit einem erhöhten Komplikationsrisiko vor, auch wenn sein Fokus vor allem auf die flächendeckende Impfung gerichtet ist. Insofern ist unter gewissen besonderen Umständen auch die Gabe von Immunglobulin an Personen möglich und zulässig, die nicht ein erhöhtes Komplikationsrisiko aufweisen.
Verhältnismässigkeit des Schulausschlusses:
3.1. Strittig ist im vorliegenden Verfahren lediglich die Verhältnismässigkeit der Massnahme (zweiwöchiger Schulausschluss). Die Vorinstanz führt in diesem Zusammenhang aus, es sei nicht erkennbar und werde von der Beschwerdeführerin auch nicht weiter dargetan, inwiefern eine mildere Massnahme zur Verfügung gestanden hätte. Die Beschwerdeführerin macht diesbezüglich aber geltend, dass es durchaus mildere Mittel gäbe, nämlich Immunglobuline (sog. Antikörper [ https://www.pschyrembel.de/Immunglobuline/K0ALV/doc/]), und sie diese mildere Massnahme in ihrer Beschwerde auch erwähnt habe.
3.2. Die Beschwerdeführerin macht in ihrer Beschwerde vom 20. März 2017 an das Verwaltungsgericht tatsächlich auf S. 16 auf die Masern-Passivimpfung (Immunglobulin-Gabe) unter Hinweis auf einen Artikel von Autoren der Universität Genf und Lausanne (JANDUS/FLATZ/VON ELM, Was bringt die Masern-Passivimpfung nach Exposition?, Mini-Review Cochrane für die Praxis, Praxis 2015; 104 (11) : 587 – 588) als milderes Mittel aufmerksam.
3.3. Die angeordnete epidemienrechtliche Massnahme gegenüber der Beschwerdeführerin ist deren Ausschluss von der Schule. Verhältnismässigere Mittel wäre ein Teilausschluss oder gar kein Ausschluss. Die Gabe von Immunglobulin kann – wie dargelegt – unter besonderen Umständen ein gegenüber dem Schulausschluss verhältnismässigeres Mittel darstellen, da dadurch eine Weiterverbreitung des Masernvirus unterbunden wird. Zwar macht die Beschwerdeführerin in ihrer wenig klaren Rechtsschrift die Gabe von Immunglobulin als mildere Massnahme ihr gegenüber geltend. Bei Lichte betrachtet verlangt sie die Gabe von Immunglobulin allerdings nicht für sich, sondern vertritt sie die Auffassung, dass für sie deren Gabe an nicht impfbare Kinder eine mildere Massnahme darstelle. Sinngemäss müsste sie daher weder sich impfen lassen noch Immunglobulin zu sich nehmen; falls sie erkranken würde, wäre das quasi ihr eigenes Risiko.
3.4. Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen rechtlich nicht haltbar: Das Epidemiengesetz nimmt für die Anordnung von Massnahmen Bezug auf Personen, die krank, krankheitsverdächtig, angesteckt oder ansteckungsverdächtig sind (Art. 33 ff. EpG). Das war die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt als sie von der Schule ausgeschlossen wurde unbestrittenermassen. Sie blieb krankheitsbedingt vom 7. bis 15. Februar 2017 dem Schulunterricht fern (siehe oben A.). Die epidemienrechtliche Massnahme richtet sich also an Personen, welche die gesetzlich erlassenen Voraussetzungen erfüllen. Das Verhältnismässigkeitsprinzip nimmt auf diese Massnahmen, die gegen die genannten Personen gerichtet sind, Bezug. Dies ist im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin. Die Massnahme, die gegen die Beschwerdeführerin gerichtet ist, muss somit verhältnismässig sein. Mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip können sodann keine Massnahmen gegenüber Dritten geschaffen werden; das Verhältnismässigkeitsprinzip ersetzt keine gesetzliche Grundlage, welche Grundlage für einen Grundrechtseingriff bei Dritten bildet. Dies beabsichtigt die Beschwerdeführerin aber gerade mit ihrem Ansinnen, wenn sie den Staat auffordert, dass die nicht impfbaren Personen mit Immunglobulin versorgt werden. Abgesehen davon funktioniert ihr Verhalten, wonach sie bei einer Erkrankung das Risiko selber trägt, nur deshalb, weil die Bevölkerung aufgrund einer sehr hohen Impfrate geschützt ist.
Nachtrag 9.4.2021
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg entschied im Fall Vavřička and Others v. the Czech Republic (8.4.2021), dass die in Tschechien vorgesehene Impfpflicht für Kinder gegen neun Krankheiten (Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ , Poliomyelitis (Kinderlähmung), Hepatitis B, Masern, Mumps, Röteln und – für Kinder mit bestimmten gesundheitlichen Indikationen – Pneumokokken) nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), namentlich gegen das Recht auf Privatleben, verstösst. Die Möglichkeit der Nichtzulassung zu Kinderhorten oder zum Kindergarten von ungeimpften Kindern und von Bussen für die Kindeseltern werden als verhältnismässig betrachtet.
– Q&A on the case of Vavřička and Others v. the Czech Republic
– Urteil (englisch)
– Urteil (französich)