Nachehelicher Unterhalt: Aufgabe der 45er-Regel

Bei so genannten lebensprägenden Ehen, bei denen die Ehefrau ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben hat, um sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, galt nach ständiger Praxis des Bundesgerichts, dass der Ehefrau die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zumutbar ist, wenn sie im Zeitpunkt der Scheidung das 45. Altersjahr erreicht hat.

Das Bundesgericht hat nun in einem Urteil vom 2. Februar 2021 (5A_104/2018) diese Rechtsprechung gekippt:

5. Nach dem Gesagten ist vorab die rechtliche Frage der Zumutbarkeit der Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu prüfen.

5.1. Diesbezüglich beruft sich die Beschwerdeführerin auf die „45er-Regel“, welche vorliegend missachtet worden sei. Sie macht geltend, das Bundesgericht wende diese für Ehegatten, die während des ehelichen Zusammenlebens nicht erwerbstätig gewesen seien, bis in jüngste Zeit konsequent an. Die Regel könne zwar umgestossen werden, aber hierfür bestünden vorliegend gerade keine Anhaltspunkte: Bei der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes im Oktober 2010, als sie 44½ Jahre alt gewesen sei, habe niemand die bisherige Aufgabenteilung in Frage gestellt und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sei schlicht kein Thema gewesen; angesichts des Alters der Kinder (jüngstes Kind damals erst knapp sieben Jahre alt) hätte dies von ihr denn auch nicht verlangt werden können. Ebenso wenig sei bei der Einleitung der Scheidung geltend gemacht worden, dass sie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen müsse; der Ehemann habe dies erst im Gesuch um Abänderung der vorsorglichen Massnahmen vom 21. Januar 2015 (Herabsetzung der Unterhaltsbeiträge wegen erheblich geringerer Bonusleistungen) verlangt. Damit verschiebe sich der Zeitpunkt für die Beurteilung der Zumutbarkeit auf den betreffenden gerichtlichen Entscheid vom 7. Dezember 2015. Damals sei sie aber kurz vor dem 50. Geburtstag gestanden und im August 2016, als sie gemäss diesem Entscheid die Erwerbstätigkeit hätte aufnehmen sollen, sei sie bereits über 50 Jahre alt gewesen. Mithin hätte von ihr gemäss der „45er-Regel“ keinesfalls die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verlangt werden dürfen.
(…)
5.2. Für den nachehelichen Unterhalt gilt aufgrund des klaren Wortlautes von Art. 125 Abs. 1 ZGB das Primat der Eigenversorgung und damit eine Obliegenheit zur (Wieder-) Eingliederung in den Erwerbsprozess bzw. zur Ausdehnung einer bestehenden Tätigkeit. Der Zuspruch eines Unterhaltsbeitrages ist subsidiär zur Eigenversorgung und nur geschuldet, soweit der gebührende Unterhalt bei zumutbarer Anstrengung nicht oder nicht vollständig durch Eigenleistung gedeckt werden kann (BGE 134 III 145 E. 4 S. 146 f.; 141 III 465 E. 3.1 S. 468 f.; zur Publ. bestimmtes Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.4). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aktualisiert sich der Grundsatz der Eigenversorgung ab dem Zeitpunkt der Scheidung in besonderer Weise; eine betreffende Pflicht besteht allerdings bereits ab dem Trennungszeitpunkt, wenn keine vernünftige Aussicht auf Wiederaufnahme des Ehelebens mehr besteht (BGE 130 III 537 E. 3.2 S. 542; 137 III 385 E. 3.1 S. 386 f.; 138 III 97 E. 2.2 S. 99; Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.4).

Diese Verpflichtung zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit erfährt bzw. erfuhr nach der bisherigen Rechtsprechung in zweierlei Hinsicht eine Einschränkung: Zum ersten kann ein Ehegatte aufgrund von Kinderbetreuung an einer Erwerbsarbeit verhindert sein. Diesbezüglich galt früher die sog. „10/16-Regel“, welche mit BGE 144 III 481 durch das Schulstufenmodell abgelöst wurde; danach wird im Regelfall dem hauptbetreuenden Elternteil ab der obligatorischen Schulpflicht des jüngsten Kindes eine Erwerbsarbeit von 50 %, ab dessen Übertritt in die Sekundarstufe I eine solche von 80 % und ab dessen Vollendung des 16. Lebensjahres ein Vollzeiterwerb zugemutet (BGE 144 III 481 E. 4.7.6 S. 497). Zum anderen galt bei lebensprägenden Ehen gemäss langjähriger bundesgerichtlicher Rechtsprechung die Vermutung, dass einem vollständig ausserhalb des Erwebslebens stehenden Ehegatten nach Erreichen des 45. Altersjahres eine (Wieder-) Eingliederung ins Berufsleben nicht mehr zumutbar sei und er sich diesfalls seinen gebührenden Unterhalt auch nachehelich durch den anderen Ehegatten finanzieren lassen könne.

Zwar hat das Bundesgericht in jüngerer Zeit kantonale Urteile, mit welchen im Zuge der Trennung bzw. Scheidung auch älteren Ehegatten die Wiederaufnahme zugemutet wurde, meist geschützt (z.B. Urteile 5A_76/2009 vom 4. Mai 2009 E. 6.2.5; 5A_750/2011 vom 5. Dezember 2011 E. 5; anders aufgrund der spezifischen Umstände das Urteil 5A_97/2017 vom 23. August 2017 E. 7.2), und auch in der Lehre wird verschiedentlich angezweifelt, ob die „45er-Regel“ angesichts der heutigen Realitäten noch aktuell sein könne, zumal das Bundesgericht selbst davon ausgehe, dass die Grenze in der kantonalen Rechtsprechung heute eher bei 50 Jahren liege (VETTERLI/CANTIENI, Kurzkommentar ZGB, 2018, N. 6 zu Art. 125 ZGB; BÜCHLER/CLAUSEN, Die Eigenversorgungskapazität im Recht des nachehelichen Unterhalts: Theorie und Rechtsprechung, in: FamPra.ch 2015, S. 24 und 27; DIEZI, Nachlebensgemeinschaftlicher Unterhalt, Bern 2014, Rz. 780; HAEFELI, Nachehelicher Unterhalt als Auslaufmodell, in: SJZ 2016, S. 420; kritisch gegenüber einer Abschwächung der Regel hingegen FANKHAUSER, Steht das Ende der 45-Jahr-Regel bevor?, in: FamPra.ch 2014, S. 153 ff.).

Dennoch hat aber das Bundesgericht die „45er-Regel“ bis heute als Grundsatz immer wieder erwähnt (vgl. BGE 137 III 102 E. 4.2.2.2 S. 109; aus letzter Zeit: Urteile 5A_181/2017 vom 27. September 2017 E. 4.4; 5A_1043/2017 vom 31. Mai 2018 E. 3.2; 5A_267/2018 vom 5. Juli 2018 E. 5.1.2; 5A_101/2018 vom 9. August 2018 E. 3.3; 5A_24/2018 vom 21. September 2018 E. 5.1.2; 5A_745/2019 vom 2. April 2020 E. 3.2.1; 5A_801/2019 vom 26. Mai 2020 E. 3.3.2). Dabei ging es stets um den beruflichen (Wieder-) Einstieg, während die Ausdehnung einer bereits bestehenden Erwerbstätigkeit auch bei über 45-jährigen Ehegatten seit je als zumutbar erachtet wurde (vgl. statt vieler: Urteile 5A_206/2010 vom 21. Juni 2010 E. 5.3.4; 5A_332/2011 vom 10. April 2012 E. 3.3.1; 5A_21/2012 vom 3. Mai 2012 E. 3.3; 5A_319/2016 vom 27. Januar 2017 E. 4.2; 5A_201/2016 vom 22. März 2017 E. 8.1; 5A_187/2016 vom 30. Mai 2017 E. 2.2.2; 5A_97/2017 vom 23. August 2017 E. 7.1.2.1; 5A_801/2019 vom 26. Mai 2020 E. 3.3.2); ebenfalls als zumutbar erachtet wurde die Wiederaufnahme des Lehrerberufes mit 57 Jahren nach einem nur kurzen Unterbruch von zwei Jahren (Urteil 5A_750/2011 vom 5. Dezember 2011 E. 5).

5.3. Im Lauf der Zeit und namentlich im Zug der per 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Scheidungsrechtsrevision (AS 1999 1118) hat die „45er-Regel“ eine Wandlung durchgemacht:

Nach dem Eherecht von 1907/1912 oblag der Ehefrau von Gesetzes wegen die Haushaltsführung (aArt. 161 Abs. 3 ZGB), während der Ehemann als Gegenleistung „für den Unterhalt von Weib und Kind in gebührender Weise Sorge zu tragen“ hatte (aArt. 160 Abs. 2 ZGB). Bei der Scheidung hatte eine schuldlose Ehefrau im Rahmen von aArt. 151 ZGB grundsätzlich Anspruch auf Fortsetzung der verlustig gegangenen ehelichen Versorgung durch den Ehemann. Allerdings wurde dieser Grundsatz sukzessiv eingeschränkt. So wurde mit der Zeit ein zu ersetzender „Scheidungsschaden“ verneint, wenn der Unterhaltsverlust durch eine Erwerbsaufnahme „zufolge Befreiung von den ehelichen Pflichten“ ausgeglichen werden konnte (verrechnungsweise erfolgende sog. Vorteilsausgleichung, so bereits BGE 60 II 391 E. 3 S. 396, sodann z.B. BGE 84 II 415 E. 2 S. 416). Später rückte zunehmend die Frage ins Zentrum, inwiefern die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch einer an sich erwerbsunwilligen Person zumutbar sei; dies war insbesondere ab der per 1. Januar 1998 in Kraft getretenen Revision des fünften Titels (Wirkungen der Ehe im allgemeinen) der Fall, weil die Ehefrau – wie es das Bundesgericht ausdrückte – keinen gesetzlichen Anspruch mehr hat, ihren Beitrag durch die Führung des Haushalts zu leisten und von einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich befreit zu sein, sondern es gemäss Art. 163 ZGB ausdrücklich den Ehegatten überlassen ist, sich über die Rollenverteilung sowie über Art und Umfang ihrer Beiträge an den gemeinsamen Unterhalt zu einigen (vgl. BGE 114 II 13 E. 3 S. 16 sowie für die Konsequenzen beim nachehelichen Unterhalt E. 4 S. 16), wobei für die Frage der Zumutbarkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch weiterhin die Schwere des Scheidungsverschuldens erheblich ins Gewicht fallen sollte (BGE 115 II 6 E. 5 S. 11).

Im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit wurde die Altersschwelle von 45 Jahren erstmals mit BGE 114 II 9 E. 7b S. 11 und BGE 115 II 6 E. 5a S. 11 in publizierten Urteilen erwähnt. Allerdings lag noch weniger eine generalisierende Vermutung im Fokus, sondern ging es primär um eine Gesamtwürdigung der konkreten Umstände. So wurden in BGE 114 II 9 im Zusammenhang mit einer Bedürftigkeitsrente gemäss aArt. 152 ZGB die konkreten Elemente gegeneinander abgewogen (E. 7b S. 11 f.), und in BGE 115 II 6 wurde festgehalten, eine Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den konkreten Fall ergebe, dass (bei einer Ehe mit zwei Kindern, wobei das jüngere noch persönliche Betreuung brauchte, vgl. E. 3c S. 10) die lange Ehedauer von rund 20 Jahren und das Alter der Klägerin von 45 Jahren bei Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils grundsätzlich für eine zeitlich unbefristete Unterhaltsersatzrente spreche (E. 6 S. 13). In sich anschliessenden Urteilen wurde unter Bezugnahme auf BGE 115 II 6 die Altersgrenze von 45 Jahren jedoch immer mehr zu einer von einer Gesamtwürdigung losgelösten generalisierenden Vermutung bzw. einer Richtlinie für oder gegen die Zumutbarkeit einer Erwerbsaufnahme (vgl. BGE 119 II 361 E. 5b S. 367; 137 III 102 E. 4.2.2.2 S. 108 f.; Urteile 5C.188/1993 vom 28. Januar 1994 E. 3c/bb; 5C.54/1995 vom 13. Juni 1995 E. 2a; 5C.74/1996 vom 4. Juni 1996 E. 4; 5C.278/2000 vom 4. April 2001 E. 3d; Fortsetzung dieser Rechtsprechung bis in die jüngste Zeit, vgl. oben E. 5.2).

Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die „45er-Regel“ ursprünglich die ausnahmsweise Begrenzung der an sich zeitlich unbefristet geschuldeten Unterhaltsersatzrente gemäss aArt. 151 ZGB zum Ausgangspunkt hatte und dass sie im neuen Scheidungsrecht – welches vom Verschuldensprinzip abkehrte (Botschaft zur Scheidungsrechtsrevision, BBl 1996 I 27 ff., 67 und 114), das Primat der Eigenversorgung verankerte (dazu oben), und als Regel eine zeitliche Befristung des subsidiären Unterhaltsanspruches vorsieht (Art. 125 Abs. 1 und 2 ZGB; Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.5 m.w.H.) – wiederum zur Begründung einer Ausnahme diente, freilich in umgekehrter Richtung, indem bei unzumutbarer Eigenversorgung nachehelicher Unterhalt geschuldet sein soll.

5.4. Die „45er-Regel“ ist mit anderen Worten keine vom Gesetzgeber aufgestellte oder angedachte Vermutung und sie lässt sich insbesondere nicht aus dem Kriterienkatalog von Art. 125 Abs. 2 ZGB ableiten, (jedenfalls direkt) auch nicht aus der dortigen Ziff. 4, sondern sie beruht auf Rechtsprechung, wobei diese wie aufgezeigt einen Bedeutungswandel durchgemacht und in der letzten Zeit auch viel von ihrem Richtliniencharakter verloren hat, indem die kantonale Rechtsprechung oft von höheren Altersschwellen ausgeht, soweit sie solche überhaupt anwendet. Es stellt sich in grundsätzlicher Weise die Frage, ob eine an ein bestimmtes Lebensalter geknüpfte Vermutung für oder gegen die Zumutbarkeit zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit überhaupt noch zeitgemäss sein kann oder ob es nicht vorzuziehen ist, allein auf die tatsächliche Möglichkeit abzustellen, wie sie in Art. 125 Abs. 2 Ziff. 7 ZGB als Kriterium für den nachehelichen Unterhalt aufgeführt ist.

Ausgangspunkt bildet der sich aus Art. 125 Abs. 1 ZGB ergebende Grundsatz, wonach im nachehelichen Verhältnis ein jeder Ehegatten die wirtschaftliche Eigenständigkeit anzustreben hat; damit ist grundsätzlich eine Obliegenheit zur Ausschöpfung einer in tatsächlicher Hinsicht bestehenden Eigenversorgungskapazität verbunden (vgl. dazu Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.4 m.w.H.). Zwar ist beim nachehelichen Unterhalt die Aufgabenteilung während der Ehe als Kriterium miteinzubeziehen (Art. 125 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB); damit ist das Kontinuitätsprinzip angesprochen. Allerdings tritt mit der Scheidung (bzw. an sich schon mit der Trennung) insofern eine Zäsur ein, als die Besorgung des gemeinsamen Haushaltes und damit die entsprechende Unterhaltsleistung an die Gemeinschaft wegfällt und insofern der Ehegatte, welcher diese bisher erbracht hat, im betreffenden Umfang frei wird und somit (bei gegebener tatsächlicher Möglichkeit) für seinen eigenen Unterhalt sorgen kann. Diese Beobachtung erfolgte in der bundesgerichtlichen Rechtssprechung bereits recht früh (vgl. oben E. 5.3); aber auch in der jüngeren Rechtsprechung wurde immer wieder erwähnt, dass mit der Scheidung (bzw. bereits mit der Trennung) die tatsächlichen Lebensverhältnisse ändern und sich ein Ehegatte nicht einfach auf eine frühere Rollenteilung berufen und daraus ableiten kann, dass er zu gar keiner eigenen Erwerbstätigkeit verpflichtet sei, obwohl seine Beiträge an die Gemeinschaft wegfallen und es ihm dadurch an sich möglich wird, seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (z.B. Urteile 5A_122/2011 vom 9. Juni 2011 E. 4; 5A_319/2016 vom 27. Januar 2017 E. 4.2; 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.5 m.w.H.).

Naturalleistungen zugunsten der (an sich nicht mehr bestehenden) Gemeinschaft werden freilich dort weiterhin erbracht, wo gemeinsame Kinder zu betreuen sind, denn die Betreuungsaufgabe stellt sich auch nach der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes und wird deshalb in Art. 125 Abs. 2 Ziff. 6 ZGB speziell erwähnt. Dennoch wird selbst hier nach einer den Verhältnissen des konkreten Falles angepassten Übergangsfrist vom obhutsberechtigten Ehegatten erwartet, dass er sich trotz der Erbringung von Naturalleistungen abgestuft nach dem Alter der gemeinsamen Kinder sukzessive wieder in den Erwerbsprozess eingliedert. Diesbezüglich hat das Bundesgericht in einem Leiturteil neulich in Abkehr zur früheren „10/16-Regel“ im Sinn einer Richtlinie das Schulstufenmodell für verbindlich erklärt (BGE 144 III 481 E. 4.7.6 S. 497), welches vom betreuenden Elternteil eine schnellere und umfassendere Wiedereingliederung auf dem Arbeitsmarkt erwartet als dies nach der früheren Regel der Fall gewesen war. Das Bundesgericht hat dabei namentlich auch auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Tatsache hingewiesen, dass heute in getrennt wie in gemeinsam geführten Haushalten überwiegend beide Elternteile zumindest teilweise erwerbstätig sind (E. 4.7.7 S. 498).

Wird im Rahmen des Schulstufenmodelles nach einer bestimmten Übergangsfrist die Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit unbekümmert um die seinerzeit von den Ehegatten getroffene Aufgabenteilung zugemutet, ist wenig einsichtig, wieso eine bestimmte Altersschwelle eine generelle – mithin vom Einzelfall und namentlich auch von der Frage der Kinderbetreuung losgelöste, d.h. selbst bei kinderlosen Haushalten greifende – Unzumutbarkeit begründen soll. Im Vordergrund muss vielmehr die Frage nach angemessenen Übergangsfristen stehen, wie das Bundesgericht dies bereits in seinem Leiturteil zum Schulstufenmodell betont hat, dort freilich nicht nur in Zusammenhang mit dem Kontinuitätsprinzip als solchem – welches nicht auf eine Perpetuierung einer zufolge aufgelöster Gemeinschaft gar nicht mehr gelebten Aufgabenteilung hinauslaufen darf (BGE 144 III 481 E. 4.6 S. 491) –, sondern auch aus Kindeswohlüberlegungen heraus, weil bei der Trennung der Eltern das Leben der Kinder nicht im gleichen Augenblick noch weitere Änderungen erfahren soll wie beispielsweise einen Wechsel von Eigen- zu Fremdbetreuung; deshalb kann die zwischen den Eltern vereinbarte Betreuungsform nach der Trennung vorerst „für eine gewisse Zeit“ weitergeführt werden (BGE 144 III 481 E. 4.5 und 4.6 S. 490 f.).

Was nun spezifisch den beruflichen Wiedereinstieg anbelangt, soll die Übergangsfrist der Herstellung der diesbezüglichen Voraussetzungen dienen. Vorab nimmt die innere Neufindung wie auch der Bewerbungsprozess auf dem Arbeitsmarkt eine gewisse Zeit in Anspruch. Vielleicht erweist sich aber auch eine Weiterbildung für das Ziel einer adäquaten und Erfolg versprechenden Wiedereingliederung in das Erwerbsleben als sinnvoll, denn je höher die Eigenversorgungskapazität des potentiell Unterhaltsberechtigten wird, desto stärker ist anschliessend der Unterhaltsverpflichtete entlastet, so dass auch er am entsprechenden Ziel interessiert sein muss. Im Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.4 wurde festgehalten, dass das Aus-, Um- und Weiterbildungsangebot in der Schweiz gross und vielfältig (geworden) ist; eine permanente Weiterbildung zur Optimierung der persönlichen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt ist denn auch ein Zeichen der Zeit. Insofern kann sogar eine kurze Unterbrechung einer bisherigen Tätigkeit für eine Zusatzausbildung zur Erlangung einer besseren Eigenversorgungskapazität angezeigt sein (vgl. GLOOR/ SPYCHER, Basler Kommentar, N. 32 zu Art. 125 ZGB). Vor diesem Hintergrund sind je nach konkreter Ausgangslage unter Umständen auch längere Übergangsfristen angezeigt, jedenfalls wenn sie im Zusammenhang mit einer deutlichen Erhöhung der Eigenversorgungskapazität stehen, denn es ist dem Gedanken der nachehelichen Solidarität, auf welchem der Scheidungsunterhalt beruht, gerade inhärent, dass der Unterhaltsverpflichtete den Berechtigten bei der Herstellung der Voraussetzungen, um das nacheheliche Leben aus eigener Kraft zu bestreiten, unterstützt. Indes muss es sich selbst in diesem Fall um eine Übergangsfrist handeln; umso mehr gilt dies ausgehend vom Primat der Eigenversorgung, wenn keine Weiterbildung ansteht, weil mit der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes wie gesagt eine Zäsur eintritt und die vereinbarte Aufgabenteilung zwangsläufig hinfällig geworden ist.

5.5. Vor dem Hintergrund des Gesagten drängt es sich auf, die „45er-Regel“ formell aufzugeben. Insbesondere würde eine blosse Anhebung der Altersgrenze, etwa auf 50 Jahre, wenig Sinn machen, da unabhängig von einer bestimmten Limite eine generalisierende Vermutung dem Einzelfall zu wenig gerecht wird. Wie im Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.4 ausgeführt wurde, hängt es stark vom Berufsfeld und der Ausbildung ab, ob und wie schnell ein (Wieder-) Einstieg ins Erwerbsleben gelingen kann.

5.6. Massgeblich ist mithin eine konkrete Prüfung anhand der in jenem Urteil genannten Kriterien (Alter, Gesundheit, sprachliche Kenntnisse, bisherige und künftige Aus- und Weiterbildungen, bisherige Tätigkeiten, persönliche und geographische Flexibilität, Lage auf dem Arbeitsmarkt, u.ä.m.). Dass das Lebensalter oft ein entscheidender Faktor bei der Beurteilung der tatsächlichen Möglichkeit ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, entspricht einer Tatsache. Indes kommt dem Alter zufolge Aufgabe der „45er-Regel“ nicht (mehr) eine von allen übrigen Faktoren losgelöste abstrakte Bedeutung im Sinn einer Vermutung für oder gegen die Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit zu. Dem sind zwei Klarstellungen anzufügen:

„Konkrete Prüfung“ meint nicht, dass es ausschliesslich um die Feststellung von Tatsachen geht. Vielmehr ist auf der Basis der erhobenen Tatsachen weiterhin die Rechtsfrage zu prüfen, ob insgesamt und in welchem Umfang die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zumutbar ist (zur Unterscheidung und der divergierenden Kognition im bundesgerichtlichen Verfahren vgl. die in E. 4 angeführte Rechtsprechung).

Soweit in tatsächlicher Hinsicht die Aufnahme einer Erwerbsarbeit möglich ist, besteht der Grundsatz, dass diese auch zumutbar und unter dem Titel der Eigenversorgung ein entsprechendes (hypothetisches) Einkommen an den gebührenden Unterhalt anzurechnen ist (dazu E. 5.4). Von diesem Grundsatz kann aber in begründeten Einzelfällen ausnahmsweise abgewichen werden, beispielsweise bei einem nahe am Pensionsalter stehenden Ehegatten. Eine Unzumutbarkeit – insbesondere zur Aufnahme nicht „standesgemässer“ Erwerbsarbeiten – lässt sich auch dort begründen, wo die Ehe aufgrund verschiedener Faktoren das Leben eines Ehegatten in entscheidender Weise geprägt hat, indem er auf die (Weiter-) Verfolgung einer eigenen Karriere verzichtet, sich stattdessen aufgrund eines gemeinsamen Entschlusses dem Haushalt und der Erziehung der Kinder gewidmet und dem anderen Ehegatten während Jahrzehnten den Rücken freigehalten hat, so dass dieser sich ungeteilt dem beruflichen Fortkommen und der damit verbundenen Steigerung seines Einkommens widmen konnte und sich mit diesem ohne Weiteres auch zwei Haushalte finanzieren lassen; eine „Lebensprägung“ im Sinn der bisherigen Rechtsprechung reicht für ein Abweichen vom Grundsatz allerdings nicht.

5.7. Für den vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Gesagten, dass die kantonalen Instanzen zu Recht die konkrete Möglichkeit des beruflichen Wiedereinstieges der Beschwerdeführerin geprüft haben. (…)