In verschiedenen Gesetzen wird die Vermutung aufgestellt, dass die Zustellung einer Vorladung oder eines Entscheides am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt gilt, soweit die betroffene Person mit einer Zustellung hat rechnen müssen.
Art. 85 StPO
Form der Mitteilungen und der Zustellung
(…)
4 Sie gilt zudem als erfolgt:
a. bei einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist: am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste;
Zivilverfahren: Art. 138 Abs. 3 Bst. a ZPO
Verwaltungsverfahren: Art. 20 Abs. 2bis VwVG
Sozialversicherungsrechtliches Verfahren: Art. 38 Abs. 2bis ATSG
Verfahren beim Bundesgericht: Art. 44 Abs. 2 BGG
In einem Urteil des Bundesgerichts vom 1. April 2020 (6B_28/2020) findet sich ein diesbezügliches Beispiel:
4. Die Vorinstanz hat die Grundsätze zur Zustellfiktion im angefochtenen Entscheid zutreffend wiedergegeben. Der Beschwerdeführer reichte am 19. September 2019 bei der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige ein. Er hat damit aktiv ein Prozessrechtsverhältnis initiiert. Folglich musste er mit einer Reaktion der Staatsanwaltschaft rechnen und entsprechend davon ausgehen, dass ihm in absehbarer Zeit Schreiben zugestellt werden könnten. Die mit Einschreiben versandte Nichtanhandnahmeverfügung wurde dem Beschwerdeführer am 14. Oktober 2019 und damit rund einen Monat nach seiner Strafanzeige zur Abholung gemeldet. Dieser Zeitablauf liegt deutlich im Rahmen des zu Erwartenden. Der Standpunkt des Beschwerdeführers, er habe mit Zustellungen nicht rechnen müssen, weil die Staatsanwaltschaft aufgrund des erstellten Anfangstatverdachts und der gegebenen Beweise eine Strafuntersuchung hätte eröffnen müssen und keine rechtsmissbräuchliche Nichtanhandnahmeverfügung hätte erlassen dürfen, geht an der Sache vorbei.
Wenn eine Person also aktiv an einem Verfahren beteiligt ist, muss sie grundsätzlich jederzeit mit einer Zustellung rechnen. Folglich hat sie bei Abwesenheit Vorkehrungen zu treffen, um Zustellungen in Empfang nehmen zu können. Am Einfachsten lässt sich das bewerkstelligen, wenn ein Anwalt engagiert wird.
Eine Person, die zum Beispiel eine Verkehrsregelverletzung begangen hat, was ihr aber nicht bewusst gewesen ist, muss nicht mit der Zustellung eines Strafbefehls rechnen. Bei Ferienabwesenheit greift somit die Zustellfiktion nicht. Der Strafbefehl gilt erst als zugestellt, wenn dieser effektiv zugestellt worden ist. Wenn einer Person ein Einschreiben angezeigt wird, sie das Einschreiben jedoch willentlich bei der Post nicht abholt, greift wieder die Zustellfiktion. Allerdings muss die betroffene Person nur behaupten, dass sie keine Abholungseinladung erhalten habe. Das Gegenteil lässt sich kaum beweisen, weshalb folglich nicht auf die Zustellfiktion abgestellt werden kann.
Im Urteil des Bundesgerichts vom 18. Juli 2016 (2C_35/2016) finden sich zur Zustellfiktion folgende allgemeine Erwägungen:
3.1. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gelten behördliche Sendungen in Prozessverfahren nicht erst dann als zugestellt, wenn der Adressat sie tatsächlich in Empfang nimmt. Es genügt, wenn die Sendung in den Machtbereich des Adressaten gelangt, sodass er sie zur Kenntnis nehmen kann. Wird der Empfänger einer eingeschriebenen Briefpostsendung oder Gerichtsurkunde nicht angetroffen und wird daher eine Abholeinladung in seinen Briefkasten oder in sein Postfach gelegt, so gilt die Sendung in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in dem sie auf der Poststelle abgeholt wird. Geschieht dies nicht innert der Abholfrist, die sieben Tage beträgt, wird die Sendung am letzten Tag dieser Frist als eröffnet vermutet. Diese sogenannte „Zustellfiktion“ rechtfertigt sich, weil für die an einem Verfahren Beteiligten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die Pflicht besteht, dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte eröffnet werden können. Die Rechtsprechung gilt während eines hängigen Verfahrens, wenn die Verfahrensbeteiligten mit der Zustellung eines behördlichen oder gerichtlichen Entscheides oder einer Verfügung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rechnen müssen (Erfordernis des hängigen Prozessrechtsverhältnisses; BGE 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399; 119 V 89 E. 4b/aa S. 94; Urteile 2P.120/2005 vom 23. März 2006 E. 3, publ. in ZBl 108/2007 S. 46 ff.; 2C_284/2014 vom 2. Dezember 2014 E. 4 u. 5; 2C_128/2012 vom 29. Mai 2012 E. 2; 6B_704/2015 vom 16. Februar 2016 E. 4; 2C_1040/2012 vom 21. März 2013 E. 4; 8C_804/2013 vom 19. September 2014 E. 2). Sowohl die Zustellpflicht der Behörde als auch die Empfangspflicht der Verfahrensbeteiligten sind vernünftig, d.h. weder mit übertriebener Strenge noch mit ungerechtfertigtem Formalismus, zu handhaben (BGE 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399; 119 V 89 E. 4b/aa S. 94; 115 Ia 12 E. 3a S. 15).
Allerdings hat die Zustellfiktion auch ihre Grenzen. Wenn das Verfahren ewig dauert und die betroffene Person folglich nicht unmittelbar mit einer Zustellung rechnen muss, greift die Zustellfiktion nicht. Dies ergibt sich aus einem Urteil des Bundesgerichts vom 19. September 2019 (6B_674/2019):
1.4.3. Die genannte Obliegenheit dauert nicht unbeschränkt. Das Bundesgericht hat hinsichtlich der gebotenen Aufmerksamkeitsdauer verschiedentlich einen Zeitraum bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensrechtlichen Handlung der Behörde als vertretbar bezeichnet. Liegt der letzte Kontakt mit der Behörde indessen längere Zeit zurück, kann von einer Zustellfiktion nicht mehr ausgegangen werden, sondern nur noch von einer Empfangspflicht des am Verfahren Beteiligten in dem Sinne, dass dieser für die Behörde erreichbar sein muss und er Adressänderungen und länger dauernde Abwesenheiten der Behörde meldet. Hingegen kann ihm eine Abwesenheit von wenigen Wochen nicht mehr entgegengehalten werden. Die Regeln über die Zustellfiktion sind in diesem Sinne vernünftig zu handhaben (Urteil 2P.120/2005 vom 23. März 2006 E. 4.2). Eine Zeitspanne bis zu einem Jahr ist aber nicht von vornherein und losgelöst von den konkreten Umständen gerechtfertigt. Als vertretbar bezeichnete das Bundesgericht etwa einen Zeitraum von neun Monaten zwischen der polizeilichen Befragung eines Strafklägers und der Zustellung einer Einstellungsverfügung. Das Bundesgericht hielt fest, der Strafkläger habe das Verfahren eingeleitet und sei daran aktiv beteiligt gewesen, weshalb er auch nach neun Monaten noch mit der Zustellung des Entscheids in der Sache habe rechnen müssen (Urteil 6B_511/2010 vom 13. August 2010 E. 4). Als keinesfalls lange Verfahrensdauer bezeichnete das Bundesgericht eine Zeitspanne von rund vier Monaten zwischen Strafanzeige und Zustellung einer Nichtanhandnahmeverfügung an den Anzeigeerstatter. Dieser habe aufgrund seiner Strafanzeige mit der Zustellung eines behördlichen Schriftstückes rechnen müssen (Urteil 1B_675/2011 vom 14. Dezember 2011 E. 3.2). Betreffend ein Strafbefehlsverfahren hielt das Bundesgericht in einem jüngeren Entscheid fest, es erscheine fraglich, ob eine Dauer bis zu einem Jahr seit der letzten Verfahrenshandlung noch vertretbar sei (Urteil 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 142 IV 286, mit Hinweis auf CHRISTIAN DENYS, Ordonnance pénale: Questions choisies et jurisprudence récente, SJ 2016 II S. 125 ff. und 130). Das Genfer Kantonsgericht qualifizierte eine Zeitdauer von acht Monaten zwischen polizeilicher Befragung des Beschuldigten und Zustellung eines Strafbefehls als zu lange. Art. 85 Abs. 4 StPO gelange aufgrund der langen Untätigkeit der Staatsanwaltschaft nicht zur Anwendung (Urteil der Cour de Justice Genf vom 30. November 2017 E. 3.2 f., ACPR/825/2017, mit Verweis auf CHRISTIAN DENYS, a.a.O.).
Ob der Adressat nach Treu und Glauben mit einer Zustellung rechnen muss und ihm deshalb aus dem Prozessrechtsverhältnis fliessende Pflichten für eine ordnungsgemässe Zustellung obliegen, beurteilt sich wie ausgeführt nach den konkreten Verhältnissen. Diese stellen sich wie folgt dar. Im Anschluss an die polizeiliche Kontrolle vom 18. Dezember 2017, bei der dem Beschwerdeführer vom Polizeibeamten eine Postsendung in Aussicht gestellt worden war, folgten keine weiteren Kontaktaufnahmen. Das Verfahren wurde nicht auf Initiative des Beschwerdeführers eingeleitet. Ihm wurden keine Termine oder Fristen für Vorladungen angesetzt oder angekündigt und es wurde keinerlei Korrespondenz ausgetauscht. Dem Beschwerdeführer war damit auch nicht bekannt, ob das polizeiliche Ermittlungsverfahren zu einem Untersuchungsverfahren der Staatsanwaltschaft geführt hatte oder irgendwann führen würde. Das Prozessrechtsverhältnis zwischen Strafverfolgungsbehörden und Beschwerdeführer begründete und erschöpfte sich darin, dass der Beschwerdeführer am 18. Dezember 2017 wegen möglichen Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz polizeilich kontrolliert wurde. Die Frage, ob der Beschwerdeführer am 20. November 2018 und damit elf Monate nach der letzten und nach seinem Kenntnisstand einzigen verfahrensrechtlichen Handlung mit einer Zustellung rechnen musste, ist zu verneinen. Die Regeln über die Zustellfiktion sind wie ausgeführt vernünftig zu handhaben. Mit Blick auf den in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht komplizierten Gegenstand des Vorverfahrens sowie die Untätigkeit der Behörde kann nicht erwartet werden, dass der Beschwerdeführer nahezu ein Jahr in jedem Zeitpunkt seine Erreichbarkeit sicherstellte und auch kürzere Ortsabwesenheiten der Behörde meldete, um keinen Rechtsnachteil zu erleiden. Vielmehr war von ihm nach Treu und Glauben und mit Blick auf die konkreten Umstände eine Aufmerksamkeitsdauer von rund einem halben Jahr zu verlangen. Daran ändern die zwei Vorstrafen des Beschwerdeführers aus den Jahren 2010 und 2018 nichts.
Dem Beschwerdeführer kann deshalb die fingierte Zustellung nicht entgegengehalten werden. Die eingeschriebene Postsendung der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt mit Abholfrist bis zum 28. November 2018 ist rechtlich unbeachtlich. Die Zustellfiktion gelangt nicht zur Anwendung.
Manche meinen, dass mit einer Verlängerung der Abholfrist oder mit einem Postrückhalteauftrag die Abholfrist verlängert werden könne. Dieser Trick funktioniert allerdings nicht. Diesbezüglich finden sich Ausführungen im Urteil des Bundesgerichts vom 1. April 2020 (6B_28/2020):
4. (…)
Muss mit Zustellungen gerechnet werden, greift die Zustellfiktion nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO. Dabei entspricht es konstanter bundesgerichtlicher Praxis, dass die siebentägige Frist von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO unabhängig davon gilt, wie lange eine Sendung gemäss den Abmachungen einer Partei mit der Post abgeholt werden kann (vgl. BGE 141 II 429 E. 3.1; BGE 134 V 49 E. 4). Das Wirksamwerden der Fiktion kann nicht durch eine Verlängerung der Abholfrist bzw. einen Post-Rückbehaltungsauftrag verhindert werden (BGE 134 V 49 E. 5; siehe auch BGE 123 III 492). Vorbehalten bleiben besondere Vertrauensschutzsituationen (BGE 127 I 31 E. 3b/bb), die hier nicht vorliegen. Soweit der Beschwerdeführer einwendet, aus der Verlängerung der Abholfrist dürfe ihm als Laien kein Nachteil erwachsen und er sich unter Hinweis auf den Grundsatz von Treu und Glauben auf einen Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 17. Juni 2019 beruft, verkennt er, dass er die Abholfrist nicht einfach hätte verlängern dürfen, ohne sich vorher nach dem Absender des avisierten eingeschriebenen Briefs zu erkundigen. Dass die Staatsanwaltschaft auf seine Strafanzeige hin mit Zustellungen an ihn reagieren könnte, liegt in der Natur der Sache. Ausgehend davon hat die Vorinstanz zu Recht angenommen, dass die staatsanwaltschaftliche Nichtanhandnahmeverfügung am 21. Oktober 2019 als zugestellt zu gelten hat, die zehntägige Beschwerdefrist am 31. Oktober 2019 endete und die Beschwerde im kantonalen Verfahren verspätet eingereicht wurde.