Pflichtteil und Scheidung

Mit der Änderung des Zivilgesetzbuches vom 18. Dezember 2020 trat per 1. Januar 2023 neu folgende Bestimmung in Kraft:

II. Verlust des Pflichtteilsanspruchs im Scheidungsverfahren
Art. 472 ZGB
1 Ist beim Tod des Erblassers ein Scheidungsverfahren hängig, so verliert der überlebende Ehegatte seinen Pflichtteilsanspruch, wenn:
1. das Verfahren auf gemeinsames Begehren eingeleitet oder nach den Vorschriften über die Scheidung auf gemeinsames Begehren fortgesetzt wurde; oder
2. die Ehegatten mindestens zwei Jahre getrennt gelebt haben.
2 In einem solchen Fall gelten die Pflichtteile, wie wenn der Erblasser nicht verheiratet wäre.
3 Die Absätze 1 und 2 gelten bei Verfahren zur Auflösung einer eingetragenen Partnerschaft sinngemäss.

Voraussetzung für den Verlust des Pflichtteils ist, dass die Scheidung mittels eines gemeinsamen Scheidungsbegehrens eingeleitet worden ist. Ferner gilt das gleiche, wenn die Ehegatten mindestens zwei Jahre getrennt gelebt haben. Da die Scheidung auf Klage erst nach einer zweijährigen Trennungsfrist eingereicht werden kann (Art. 114 ZGB), bedeutet dies, dass der Pflichtteilsverlust mit der Einreichung der Scheidungsklage eintritt. Eine Scheidung wegen Unzumutbarkeit (Art. 115 ZGB), die noch möglich wäre und keine Trennungsfrist erfordert, hat keine praktische Bedeutung.

Ob diese gesetzliche Regelung gerecht ist, ist schliesslich eine politische Frage. Am Besten zeigen sich die Auswirkungen anhand eines Beispiels:

Die Ehegatten sind seit acht Jahren verheiratet und haben zwei minderjährige Kinder. Der Ehemann verlässt nach sechs Jahren Ehe die Ehefrau und die Kinder und zieht zu seiner Freundin. Die Betreuungsaufgaben überlässt er der Ehefrau. Nach Ablauf der Trennungsfrist reicht er die Scheidungsklage ein. Während des Scheidungsverfahrens stirbt er.

Der Pflichtteil der Ehefrau würde ¼ und der der Kinder je 1/8 betragen. Die verfügbare Quote, welche zum Beispiel der Freundin zugehalten werden könnte, würde ½ betragen. Nun hat die Ehefrau allerdings keinen Pflichtteil mehr. Stattdessen würde sich der Pflichtteil der Kinder auf je ¼ erhöhen. Die disponible Quote bleibt gleich (½).

Das gesetzliche Erbrecht des Ehegatten endet grundsätzlich endgültig mit der Scheidung (Art. 120 Abs. 2 ZGB).

Art. 120 ZGB
(…)
2 Geschiedene Ehegatten haben zueinander kein gesetzliches Erbrecht.
3 Unter Vorbehalt einer abweichenden Anordnung können Ehegatten keine Ansprüche aus Verfügungen von Todes wegen erheben:
1. nach der Scheidung;
2. nach dem Tod eines Ehegatten während eines Scheidungsverfahrens, das den Verlust des Pflichtteilsanspruchs des überlebenden Ehegatten bewirkt.

Der Bundesrat führt in der Botschaft vom 29. August 2018 in Bezug auf den Todesfall während des Scheidungsverfahrens Folgendes aus:

Der neue Absatz 3 Ziffer 2 regelt ausserdem die Wirkungen des Todes der Ehegattin oder des Ehegatten während eines Scheidungsverfahrens. Der Tod der Ehefrau oder des Ehemannes während des Scheidungsverfahrens lässt dieses gegenstandslos werden. Weder die überlebende Ehegattin oder der überlebende Ehegatte noch die Erben der verstorbenen Person können das Verfahren weiterführen. Durch dessen Einleitung bringen die Eheleute beziehungsweise die Ehegattin oder der Ehegatte zum Ausdruck, dass sie ihre Ehe endgültig beenden wollen. Der Gesetzgeber hat bereits entschieden, die güterrechtliche Auseinandersetzung (Art. 204 Abs. 2 ZGB) und den Vorsorgeausgleich (Art. 122 ZGB) auf den Tag zurückzubeziehen, an dem das Scheidungsbegehren eingereicht wurde. Der Bundesrat schlägt vor, in Bezug auf die Pflichtteile (Ziff. 3.3.3 und Art. 472 E-ZGB) und auf die Ansprüche aus Verfügungen von Todes wegen in gleicher Weise vorzugehen.

Stirbt eine verheiratete Person während des Scheidungsverfahrens, so kann die überlebende Ehegattin oder der überlebende Ehegatte unter Vorbehalt einer abweichenden Anordnung in einer Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) folglich keine Ansprüche aus Verfügungen von Todes wegen zu ihren oder seinen Gunsten geltend machen, wenn das Scheidungsverfahren nach Artikel 472 E-ZGB den Verlust des Pflichtteilsanspruchs zur Folge hat. Stirbt die Ehefrau oder der Ehegatte hingegen während eines Scheidungsverfahrens, das die Voraussetzungen nach Artikel 472 E-ZGB nicht erfüllt, so behalten die Verfügungen von Todes wegen zugunsten der überlebenden Person ihre Gültigkeit.